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Ministerpräsidenten: Ach, wir Duldsamen!

Infrastruktur, Verkehr, Schulen – alles im Argen. Und die Politik gibt sich immer wieder überrascht. Geduld ist für Berliner und Brandenburger erste Tugend geworden – weil Wowereit und Platzeck sie uns antrainiert haben.

Von wegen schnelle Stadt: In Berlin braucht man vor allem Geduld. Flugreisende etwa – Tegel ist an der Kapazitätsgrenze. Oder Eltern schulpflichtiger Kinder – die jüngste Schulreform ist zwar theoretisch bewältigt, praktisch gibt es aber noch Probleme bei der Unterbringung von Mädchen und Jungen in besseren Sekundarschulen. Liebhaber der Staatsoper werden noch viel Geduld aufwenden müssen, bis der Altbau in Mitte wieder betriebsbereit ist. Und die Nutzer der S-Bahn brauchen buddhistische Geduld, seit Jahren. Keine Woche ohne Störung, die den Fahrplan für Tage außer Kraft setzt. Nur die Gründe sind jeweils neue.

Unvorhergesehene Ereignisse und höhere Gewalten, wohin man sieht in der Stadt. Stets ist die Politik überrascht und erstaunt. Danach stellt sie erste strategische Überlegungen an. Wie lange haben sie in der SPD darüber nachgegrübelt, den Betrieb der S-Bahn teilweise auszuschreiben, um professionellen Schienenverkehrsbetreibern den Wettbewerb möglich zu machen und das Konkurrenzprinzip zu testen? Dass Leute, die noch mit dem Auto in der Stadt herum- fahren, Geduld brauchen, weil die Berliner Verkehrsmanager von Woche zu Woche mehr Ampeln vernetzen, doch die Koordination des umfangreichen städtischen Baustellengeschehens sich mit jedem neuen Baggereinsatz wieder als theoretisch und praktisch unmöglich erweist, das ist – jede Wette! – immerhin politisch gewollt: Autofahrer stören. Das sollen sie büßen.

Die große Frage: Warum machen wir das alles mit? Warum ist die Geduld der Berliner wie der Brandenburger in der sogenannten Metropolenregion erste staatsbürgerliche Tugend geworden – und mehr als das: notorisch, allumfassend, zwanghaft? Warum sind Berliner und Brandenburger in ihrer großen schweigenden Mehrheit so schafsgeduldige Politik-Versteher?

In der Metropolenregion ist die politische Anspruchslosigkeit zu Hause

Das hat einige traurige Gründe. Erstens ist in der sogenannten Metropolenregion die politische Anspruchslosigkeit zu Hause. Seit 2001 führt Klaus Wowereit Politik als wechselnde Paarbeziehung vor. Rot-Grün, Rot-Rot, Rot-Schwarz: Er kann alles. Und wozu das alles, außer zum sogenannten Regieren? Zumindest kann man in dieser Stadt, in der Geduld ebenso gefordert ist wie der Sinn für Ironie, die Ausbremserei der Autofahrer als Beispiel für zielgerichtetes politstrategisches Handelns bezeichnen. Doch das Entnerven der Flugreisenden und der meisten Benutzer des öffentlichen Nahverkehrs, die Endlos-Quälerei der Eltern schulpflichtiger Kinder haben kein System und keine politstrategische Grundlage. Sie sind Folgen politischen Dilettierens und Versagens. Oder um es weniger hart auszudrücken: Sie zeigen, dass es der Berliner Politik enorm schwerfällt, auch nur die staatliche Infrastruktur in gutem Zustand zu erhalten.

Den Brandenburgern, das zum Trost der Hauptstädter, geht es nicht besser. Sie merken es bloß nicht so deutlich, weil in dem Flächenland alles etwas länger dauert und alle etwas weiter voneinander entfernt sind. Doch brauchen die Brandenburger flughafentechnisch so viel Geduld wie die Berliner. Schultechnisch sind zwar weniger reformerisch-revolutionäre Wellen durch das Land geschwappt. Aber das bedeutet nicht, dass es Eltern und Kinder leichter hätten. In angesehenen Lehranstalten fehlen die Plätze, das Privatschulwesen gedeiht, was logisch ist und das Leben noch teurer macht.

Woanders werden Ministerpräsidenten wegen Versagens aus dem Amt geschickt

Noch ein Beispiel dafür, dass die Brandenburger nicht besser dran sind als die Berliner: Die anachronistische rot-rote Landesregierung – oder hält noch jemand rote-rote Koalitionen für modellhaft? – hat für Brandenburg einen öffentlichen Beschäftigungssektor geschaffen: Neudeutsch für Planwirtschaft. Der Staat schafft Arbeitsplätze und bezahlt dafür – mit Steuergeldern. In Berlin hat es öffentliche Beschäftigung selbstverständlich auch gegeben. Es war eins der rot-roten Vorzeigeprojekte. Doch erwies es sich als teuer und und frei von jeder nachhaltigen Wirkung. Das haben sogar die Senats-Sozialdemokraten mit ihrer ausgeprägten Neigung zur Bevölkerungsbevormundung erkannt und das Experiment abgebrochen. Nichts gegen Touristenbetreuer in einer Potsdamer Kirche. Aber kann man das Arbeitsbeschaffung nennen?

Man wundert sich: Warum provozieren Klaus Wowereit und Matthias Platzeck keinen Unmut? Warum lassen die Leute ihnen Ignoranz und Desinteresse bei den Flugrouten durchgehen, vom Aufsichtsratsversagen nicht zu reden? In anderen Teilen der Republik haben erheblich großbürgerlichere Bürger, als sie hier in der Gegend zu finden sind, Ministerpräsidenten mitsamt ihren Landesregierungen wegen Versagens kurzerhand aus dem Amt geschickt.

2003 verlor der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel eine Landtagswahl. Die Leute hatten bei ihm jahrelang mehrheitlich jede Prägekraft vermisst. 2009 verlor der Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus eine Landtagswahl. Althaus hatte sich der Abstimmung als Rekonvaleszent gestellt. Neun Monate zuvor war er beim Skilaufen schwer verunglückt und hatte fahrlässig eine Frau getötet. Schwer zu sagen, ob den Wählern (wie vielen Beobachtern) sein unbedingter Wille suspekt war, das Regierungsamt zu verteidigen - oder ob sie Althaus’ CDU inhaltlich und personell zu kraftlos fanden. 2011 verlor der begriffsstutzig-stiernackige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Stefan Mappus, eine Landtagswahl. Rechthaberisch war die CDU-Nachwuchshoffnung mit einem Wahlvolk umgesprungen, das sich in einer Art Erweckungsbewegung über die Stuttgarter Bahnhofsplanung aufregte. Mappus' zockerhafte Energiepolitik dürfte ebenfalls viele Leute misstrauisch gemacht haben. Und eine Ebene tiefer: Im Februar 2012 wurde der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland per Volksentscheid aus dem Amt entfernt. Zu viele Bürger hatten die Geduld mit einem Mann verloren, der so tat, als ginge ihn die Verantwortung der Stadt Duisburg für die Love-Parade-Tragödie 2010 nichts an.

Ist doch schön hier! Geht uns doch gut!

Derweil machen Wowereit und Platzeck immer weiter. Sie haben uns Geduld nachgerade antrainiert. Andere, die unsere Ungeduld in Worte fassen und so wirken, als könnten sie besser regieren, sind nicht in Sicht. Und: Wowereit und Platzeck wirken noch immer sympathisch. Weil beide, jeder für sich, noch immer ein Lebensgefühl ausdrücken. Klaus Wowereit steht für die Lebensfreude des Innenstadt-Berliners, der von Event zu Event spaziert: bloß keene Langeweile! Platzeck repräsentiert unter dem hohen weiten Himmel die Bodenständigkeit des Brandenburgers, der sich sagt: Ist doch schön hier. Geht uns doch gut. Das Bier ist kalt, der Grill unter Feuer. Und sechs Millionen Menschen in der Überzeugung: Geduld! Es könnte schlimmer kommen.

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