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Berlin: Mit Aufbruchstimmung alle angesteckt „Die Hemmungen sind niedriger“

In Reinickendorf senkte man den horrenden Krankenstand der Lehrer und gewann „Vorleseeltern“ Eine Lesemutter über die Erfolge ihrer Initiative

Von Ursula Engel

Schulen machen sich fit für die Zukunft - und der Tagesspiegel ist dabei. Nach dem schlechten Abschneiden Berlins bei der Pisa-Studie stellen wir Schulen vor, die Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft und Kreativität groß schreiben.

Die Schule. Wer die Hoffmann-von-Fallersleben-Grundschule in Reinickendorf betritt, fühlt sich zurückversetzt in die 50er Jahre. Hier ist noch alles original. Die raumgreifende Freitreppe im Foyer ebenso wie die gelb, rot, grün und blau abgetönten Bodenplatten im Innenhof. Jahrzehntelang hat sich hier nichts verändert. Deshalb steht das Gebäude unter Denkmalschutz. Doch der Stillstand war nicht nur architektonisch. Die Schule hielt Dornröschenschlaf.

Als Frank-Volker Krumrick vor zwei Jahren als Schulleiter der 252 Schüler und 18 Lehrer nach Reinickendorf kam, begrüßte man ihn mit Eiseskälte. Hier wollte sich niemand wachküssen lassen. Schon gar nicht von ihm. Rektorin sollte eine ältere Frau aus dem Westen werden. „Geworden bin ich es dann: Ein Mann aus Hohenschönhausen“, sagt Krumrick, inzwischen 43 Jahre alt. Die erste Zeit war so hart, dass seine Familie ihm riet, die Schule zu wechseln. Krumrick behielt die Nerven. Er umgarnte Kollegen und Eltern mit Freundlichkeit. Und er provozierte durch Einsatz. Vieles hat sich seitdem an der Schule geändert. Beispielsweise wurde mit diesem Schuljahr jahrgangsübergreifendes Lernen eingeführt. Als Nächstes soll eine Nachmittagsbetreuung organisiert werden.

Das Besondere. An der Hoffmann-von-Fallersleben-Grundschule haben Lehrer und Eltern aufgehört darauf zu warten, dass die Lösung ihrer Probleme von außen kommt. Erstaunlich, wie viel die veränderte Haltung bewirken konnte. „Als ich hierherkam, hatten wir im Durchschnitt einen Krankenstand von 13 Prozent“, sagt Krumrick. „So genannte K.O.-Tage waren üblich.“ Das heißt: Lehrer blieben bis zu drei Tage ohne ärztliche Bescheinigung zu Hause.

„Früher fielen unglaublich viele Stunden aus“, bestätigt Claudia Faber, deren zweites Kind jetzt die Schule besucht. „Seit der neue Schulleiter da ist, gibt es das fast gar nicht mehr.“ Das liegt einerseits daran, dass Krumrick selbst viele Vertretungsstunden übernimmt. Andererseits hat sich der Krankenstand drastisch verringert. Er beträgt heute nur noch etwas mehr als ein Prozent. „K.O.-Tage“ sind ausgestorben. Statt dessen leisten die Lehrer montags bis donnerstags, während der Hausaufgabenbetreuung, sogar eine halbe Stunde Extraarbeit.

„Natürlich hat das nicht allen gefallen“, sagt Krumrick. „Einige Kollegen haben aber von Anfang an mitgezogen.“ Zudem habe der Lehrerberuf nun wirklich einige Vorteile. Wer sich über Kurzstunden bei Hitzefrei freue, könne nicht die Minuten zählen, wenn es darum gehe, mal etwas länger zu bleiben.

An der Hoffmann-von-Fallersleben-Grundschule ist man aufgewacht. Krumrick hofft, noch rechtzeitig. Denn auch in diesem Jahr konnte man mangels Anmeldungen nur mit einer ersten Klasse starten. „Das ist zu wenig", weiß er. Er will nicht darauf warten, dass die Frage gestellt wird, ob seine Schule noch gebraucht wird. Schon einmal hat er in Hohenschönhausen eine Schule abwickeln müssen – eine Erfahrung, die er nicht wiederholen möchte. Und die Konkurrenz unter den Schulen, so ist er sich sicher, wird größer. „Es wird nicht mehr lange dauern", sagt Krumrick, „dann werden die Eltern sich aussuchen können, in welche Schule sie ihr Kind schicken, also müssen wir uns profilieren und um die Eltern und Schüler werben."

Die Eltern. Viele Eltern haben sich fest in den Schulalltag einbinden lassen. Der seit Jahren geplante Förderverein wurde gegründet. Die überfällige Renovierung der Klassenräume wurde von Eltern und Lehrern in Angriff genommen. Bei Schulfesten und Veranstaltungen engagieren sich immer mehr hilfreiche Hände. Auch im Unterricht spielen die Eltern inzwischen eine Rolle. Als so genannte Leseeltern unterstützen sie die Deutschlehrer dabei, den Kindern Spaß am Lesen zu vermitteln. So hat die Aufbruchstimmung auch die Eltern erfasst.

Carola Wauschkuhn ist eine der „Leseeltern“ an der Hoffmann-von-Fallersleben- Grundschule. Ihre achtjährige Tochter Helena geht in die 3a.

Warum sind Sie Lesemutter geworden?

Erstmal habe ich die Zeit dazu. Vor allem aber hat es mir und meiner Tochter zu Hause alleine keinen Spaß gemacht, lesen zu üben.

Eine Lesemutter, ist das eine unbezahlte Nachhilfelehrerin?

Es stimmt: Geld bekommen wir nicht. Aber es ist keine Nachhilfe. Schließlich kommen nicht nur Kinder, die schlecht lesen können, zu uns.

Wer denn sonst?

Die Lehrerin sucht bis zu acht Kinder aus, die sie zu uns schickt. Natürlich sind darunter auch Kinder, die eine Leseschwäche haben. Aber sie schickt auch diejenigen mit, die sich schlecht konzentrieren können. Manchmal sind auch Kinder dabei, die an diesem Tag einfach nicht gut drauf sind.

Was lesen Sie?

Wir Eltern lesen gar nicht. Die Kinder lesen sich gegenseitig vor. Wir korrigieren nur oder stellen Fragen zum Text. Die Texte oder Bücher werden mit der Lehrerin abgestimmt. Damit es auch zu ihrem Unterricht passt.

Sie verbringen seit Mai einmal in der Woche zwei Stunden in der Schule. Gibt es Erfolge?

Ja, auf jeden Fall. Viele können jetzt viel besser lesen und vor allem auch verstehen, was sie gelesen haben. Die Hemmung, vor anderen laut zu lesen, ist in der kleinen Gruppe geringer, und jeder kommt öfter dran. Meine Tochter beispielsweise hat jetzt richtig Lust am Lesen bekommen. Und mir macht es übrigens auch Spaß.

Das Gespräch führte Ursula Engel.

Ursula Engel

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