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Berlin: Mit der Angst allein gelassen

Skinheads bedrohen in der S-Bahn einen Russen: Nur eine Frau greift ein – aber niemand hilft ihr. Ein Bericht

Berufsverkehr, Menschengewimmel auf dem S-Bahnhof Ostkreuz. Die Ringbahn hält, man steigt ein. Der junge russische Mann mit Musik im Ohr. Auch zwei Kahlköpfe: die Hemden aufgekrempelt, die Tätowierungen sichtbar, ihre Aggression spürbar bis zur übernächsten Sitzbank. Auf der sitzen Fahrgäste, die dennoch nicht bemerken, dass sich der junge Russe bedrängt fühlt von den Glatzen. Er fragt einen von ihnen in gebrochenem Deutsch: „Willst du mich anmachen?“ Und bekommt die eindeutige Antwort: „Soll das eine Aufforderung sein!“ Schon baut sich der Muskelprotz vor dem Russen auf, streckt seinen Arm nach ihm aus.

Ich spüre, ich muss etwas tun und spreche sie an – erst vermittelnd, aber es nützt nichts. Ich benutze schließlich mein Rad, um mich zwischen den Russen und die Neonazis zu drängeln. Rede weiter, schaue mich um, ob einer der anderen Fahrgäste bemerkt, was sich hier anbahnt. Keiner schaut auf. Jetzt dreht sich der Skin zu mir, schaut mich hasserfüllt an. Er: zwei Köpfe größer, unterstützt von seinem Kumpel und zwei Mädels an seiner Seite. „Machen Sie gefälligst meinen weißen Rock nicht dreckig mit Ihrem Rad“, sagt eine.

Ich spüre, jetzt bin ich gemeint, und fühle mich plötzlich trotz der vielen Fahrgäste absolut allein. Noch steht der Zug, noch stehen auf dem Bahnsteig jede Menge Menschen, noch ist dem Russen nichts passiert. Plötzlich ist die Situation präsent, die ich im Zug nach Cottbus erlebte, am Volkstrauertag 1992. Die Pistole, die damals einer der Neonazis auf zwei Afrikaner richtete. Damals gab es einen Mann, der sich mit mir zwischen die Skins und die Afrikaner stellte.

Aber so viel Mut habe ich heute, an diesem schwülen Sommertag, nicht, und Beistand offensichtlich auch keinen. Die Schlagzeilen rasen durch meinen Kopf, von dem Mann, der sich neulich einmischte und krankenhausreif geschlagen wurde. Ich bekomme Angst. Dränge zur Tür, denn der Zug fährt gerade ab, das Fahrrad halb drinnen, halb draußen, die Tür einen Spalt offen, die Skins packen die Tür, wollen mich davon abhalten auszusteigen. Ich schreie um Hilfe und schiebe mich durch die Tür, mit mir der Russe. Der Bahnsteig ist voller Menschen, aber es ist, als wäre nichts passiert. Die Zugabfertigerin, eine kleine Frau, kommt und lässt sogleich die S-Bahn abfahren. Mit ihr die Skinheads in ihren weißen, hochgekrempelten Hemden und mit hasserfüllten Gesichtern. Sie reißen nochmal die Tür auf, brüllen „Hurensohn!“

Ich fühle mich zwar wie befreit von einem Albtraum, aber ich spüre wachsende Wut. Die Skinheads, mit ihrer Lust loszuschlagen, fahren also weiter. Auf der Suche nach einem neuen Opfer? Ich war genötigt worden, aus dem Waggon auszusteigen. Auch der junge Russe. „Solange nischt passiert, können wir nischt machen“, sagt die Frau von der S-Bahn. Und sie sagt: „Die haben sich doch vorher schon gekabbelt; aber schuld is’ doch der Ausländer. Der hat die andern doch provoziert“. Wie bitte? Der junge Russe also. Schmal und kleiner als die beiden Kahlköpfe und allein unterwegs. Er wollte also Prügel von zwei Neonazis. Michaela Gericke

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