zum Hauptinhalt
Post für den Wedding: Nazan Özbek und ihr "Rasenmäher" in der Gerichtstraße

© Mike Wolff

Mit der türkischen Postbotin unterwegs im Wedding: Die Frau mit der Ledertasche

Nazan Özbek bringt den Weddingern seit 20 Jahren die Post. Jeden Tag liegen zwischen ihr und dem Feierabend: 145 Aufgänge, 1700 Haushalte und Laufen, Laufen, Laufen. Wir haben die alleinerziehende Mutter auf ihrem Weg durch den Kiez begleitet.

Du willst die Post austragen, haben sie gefragt und gelacht, du, ein Mädchen, ein türkisches Mädchen? Na klar, hat sie gesagt, unsere Ministerin ist doch auch eine Frau, was ist schon dabei. Nazan Özbek lacht: Tansu Çiller, kennen Sie die noch?

1993 war das, die Türkei hatte eine Frau als Ministerpräsidentin, und der Wedding hatte eine türkische Postbotin. 1993, Nazan Özbek weiß das noch genau. Zahlen sind kein Problem. Auf die Briefe fürs Seniorenheim hat sie eben noch schnell die Nummern der Wohnungen gekritzelt, in dünner Bleistiftschrift, das spart ein paar Sekunden.

Ursprünglich, sagt Nazan Özbek, wollte sie Polizistin werden, aber das ging nicht, Schuld war ihr Pass, der damals noch türkisch war. So ging sie zur Post. Ihr Zustellbezirk hat die Nummer 10: Gerichtstraße, Ruheplatzstraße, Antonstraße, zurück auf die Ruheplatzstraße und dann rauf auf die ewig lange Schulstraße, das ist ihre Route. Immer vor sich herschiebend den Security-Zustellwagen, so nennt die Post das. Er sieht aus wie ein großer gelber Rasenmäher, darin sind Platz für drei Plastikkästen voller Briefe, zwei kleine Kästen sind das und ein großer, für die A4-Sachen. Security, ein Name wie von einer Versicherungsfirma, wie ein todsicheres Versprechen, aber das Versprechen ist nur ein winziges Schloss an der Vorderseite. Vor ein paar Wochen, Nazan Özbek stopfte gerade wieder in einem Hinterhof Kuverts in die Schlitze, da haben sie ihr vorne die Klappe des Wagens aufgerissen und einen der Schlüsselbunde geklaut. Nur die Schlüssel, sagt sie, keine Ahnung, was die damit wollen. Sie hat dann an die Hausverwaltungen geschrieben, aber bisher ist nichts passiert.

Weswegen sie jetzt, in der Antonstraße, mal wieder darauf warten muss, dass ihr jemand aufmacht. Das sind die Minuten, die ihr nachher fehlen werden, Minuten, die für Esra gedacht waren, ihre Tochter. E, S, R, A, die Mutter buchstabiert es sorgsam, sie ist für mich alles. Wie mein Auge.

Zwölf ist Esra im Mai geworden, aber sie geht schon in die siebte Klasse. Manchmal hilft sie ihr abends bei den Hausaufgaben, aber oft ist die Mutter auch einfach nur müde, total kaputt nach fast elf Stunden im Dienst. Vor halb sechs kommt sie selten raus, sagt sie. Mehr als zehn Minuten dauert die Mittagspause eigentlich nie.

Die Zeit läuft ohnehin immer gegen sie. Seit sieben Uhr früh, als sie begonnen hat, ihren Arbeitstag aus den gelben Boxen zu nehmen und in die Fächer mit den Hausnummern zu stecken. Rot, blau, gelb, jede Straße hat eine andere Farbe, nur die Schulstraße ist weiß, das ist schön, sagt Nazan Özbek, weiß, das ist meine Lieblingsfarbe. Zweieinhalb Stunden steckt sie Briefe, Magazine, Werbeprospekte in die engen Fächer, jeden Morgen, bevor es hinausgeht auf die Straße.

1.700 Haushalte beliefert Postbotin Nazan Özbek täglich im Zustellbezirk 10
1.700 Haushalte beliefert Postbotin Nazan Özbek täglich im Zustellbezirk 10

© Mike Wolff

Ich bin eine richtige Postbotin!

Vor dem Zustellstützpunkt Gerichtstraße, einem fünfstöckigen Backsteinbau, ist es da noch ruhig, der Wedding döst noch ein bisschen, aber drinnen ist längst alles wach, alles laut. Kisten stapeln sich zwischen zwei Meter hohen Trennwänden, die Gänge sind eng, ständig steht man im Weg, dürft ich mal, danke. Nazan Özbek steht in ihrem winzigen Bereich, eine kleine Frau mit dunklem Pferdeschwanz, sie trägt ein weites, postgelbes Hemd und eine dunkelblaue Hose mit großen Seitentaschen für die Einschreiben, Einschreiben werden immer am Körper getragen, alte Postregel. Aber vorher noch einscannen, einmal um die Ecke, schräg über den drei Scannern hängt ein Poster, darauf ist die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu sehen und auch die türkische. Başarılar dileriz, steht dazwischen, das bedeutet: wir wünschen euch viel Glück. Sieben türkische Kollegen hat sie hier, alles Männer. Ein paar türkische Frauen gibt es auch, aber alle im Innendienst. Ich gehe raus, sagt Nazan Özbek, ich bin eine richtige Postbotin!

Sie hat sich auch mal für den Innendienst beworben, hatte extra einen EDV-Kurs gemacht, 1997 war das, ein Jahr lang, immer sonntags, Abschluss mit sehr gut, aber dann sagte der Chef, dass er doch niemanden brauche für drinnen. Also dreht sie weiter ihre Runden.

Ihre Turnschuhe kauft sie immer eine Größe größer als normal, die Füße, sie werden dick mit der Zeit. Ganz schwarz sind die Schuhe, nur das Nike-Zeichen auf den Fersen, das ist gelb wie die Post.

Ich bin alleinerziehend, das ist die Antwort

Gut sortiert: Nazan Özbek im Postgebäude an der Gerichtstraße
Gut sortiert: Nazan Özbek im Postgebäude an der Gerichtstraße

© Mike Wolff

9:24 Uhr ist es, als Nazan Özbek den Security-Zustellwagen in den Lastenaufzug rumpeln lässt. Vorher hat sie noch eine H&M-Tüte mit einer silbernen Thermoskanne oben auf die Briefstapel gelegt, eine Kanne, in der nur Wasser ist, kein Kaffee, und ein Päckchen Tempos. Sie war krank gewesen, ein paar Tage, und als sie zurückkam, waren die meisten der roten Gummibänder weg, mit denen sie die Briefe zusammenschnürt, und auch die Hausnummern, die sie auf die Schlüssel klebt, hatte jemand abgerissen. Ich arbeite ganz schön sauber, sagt Nazan Özbek.

Um 9:53 Uhr hat sie die Laufhäuser an der Gerichtstraße schon hinter sich und parkt den gelben Wagen vor der Ruheplatzstraße 24. Laufhaus, so nennen sie bei der Post einen Aufgang, bei dem die Schlitze noch in den Wohnungstüren sind und nicht unten im Erdgeschoss. Dann müssen die Zusteller all die Treppen hoch, in den muffigen Altbauten. Allzu viele Laufhäuser liegen nicht auf Nazan Özbeks Route, Gott sei Dank. Dafür ist sie länger als andere Strecken, als Ausgleich.

Rund 145 Aufgänge liegen vor dem Feierabend, jeden Tag, 1.719 Haushalte, Nazan Özbek hat extra noch mal nachgezählt, darunter drei Heime, an manchen Tagen sind das 7.000 Zustellungen. Und wenn die Leute in ihrem Bereich zu wenig Post bekommen, dann kriegt sie ein paar Hausnummern dazu, acht waren es dieses Jahr. Wieder ein paar Meter mehr für die Füße in ihren winzigen Nike-Schühchen. Schnell laufen sie zwischen den Stopps, man kann kaum Schritt halten.

Ich bin alleinerziehende Mutter, sagt Nazan Özbek, das ist die Antwort.

Meine Mutter hat mir sehr geholfen

Mit zwölf ist Nazan Özbek nach Berlin gekommen, vor 30 Jahren also, aus Izmir, kennen Sie Izmir, fragt sie, es ist wunderschön dort. Aus der Türkei kam auch ihr Mann. Drei Wochen hatten sie, um sich kennenzulernen, ein Jahr nach der Hochzeit zog er zu ihr nach Deutschland. Die Geschichte von Nazan Özbeks Ehe ist kurz, sie erzählt sie zwischen drei Aufgängen, aber sie will nicht, dass sie in der Zeitung steht. Wegen Esra. Wie eine Blume, sagt die Mutter, so erziehen wir Esra. Kinderärztin will sie werden, die Tochter der Postbotin. Studier mal, hat ihre Mutter ihr gesagt, dann hat wenigstens eine von uns beiden studiert.

Ihre Eltern, Esras Großeltern, die haben früher bei Siemens gearbeitet, beide, ihr Vater als Dreher, die Mutter am Band, mit einem Lötkolben in der Hand und einer großen Lupe vor dem Auge, so winzig waren die Teile. Meine Mutter hat mir später sehr geholfen, sagt Nazan Özbek, ich musste ja immer arbeiten.

Ruheplatzstraße, Ecke Antonstraße, die großen Gebäude: Wedding-Schule, Volkshochschule, Musikschule. Lautes Gedrängel am Grundschultor, Zweierreihen, schreit der Lehrer, wurde mehrfach gesagt! Im Hof der VHS stehen sie und rauchen, Deutschkurse ab 9 Uhr. Nazan Özbek hat nie einen Kurs gemacht, sie hat die Sprache in der Schule gelernt, wie alle Türken damals, quasi nebenbei. So wie sie sich das Kochen beigebracht hat, einfach zugeschaut hat sie der Mutter. Ich habe immer alles alleine gemacht, sagt Nazan Özbek, meine Eltern konnten doch so wenig Deutsch und hatten so viel zu tun.

Wieder ein paar kostbare Minuten verloren

Post für den Wedding: Nazan Özbek und ihr "Rasenmäher" in der Gerichtstraße
Post für den Wedding: Nazan Özbek und ihr "Rasenmäher" in der Gerichtstraße

© Mike Wolff

Auf der anderen Seite der Kreuzung, vor dem italienischen Restaurant, grüßt sie im Vorbeigehen schnell noch einen Mann im Galatasaray-Trainingsanzug, auf Türkisch, ein kurzes Lächeln. Danke, die Po-hoost, ruft Nazan Özbek ansonsten in die steilen Aufgänge, wenn jemand endlich den Summer gedrückt hat, für viel mehr Kundenkontakt ist keine Zeit. Manchmal gibt’s nette Kunden, sagt sie, die drücken, wenn sie mich sehen.

Manchmal aber bleibt die Tür zu, das sind dann wieder ein paar kostbare Minuten. Haus verschlossen, kein Problem, sagt Nazan Özbek dann und spannt das Gummi wieder um den Stapel, wird morgen zugestellt. Morgen bin ich ja wieder hier. Tatsächlich wird sie auf dem Rückweg noch mal klingeln, so viel Zeit muss sein, und dann wird jemand drücken.

Sie macht jetzt immer die gleiche Strecke. Das hilft. Wenn du anfängst, als Springer, dann kennst du die Routen nicht, du bist der Lückenbüßer, wenn ein Zusteller krank ist oder frei hat, sie setzen dich ein, wo du gerade gebraucht wirst. Insgesamt sieben Jahre war sie Springer, von 1992 bis 1997 und dann noch mal nach Esras Geburt, von 2003 bis 2006. Da ging sozusagen alles nochmal von vorne los.

Um 10:58 Uhr hat Nazan Özbek die Post fürs Bezirksamt zugestellt, dessen Eingang unter dem riesigen Baugerüst und den Staubplanen kaum zu erkennen ist, und biegt links in die Schulstraße ein.

Ich kenne den ganzen Wedding, besser als Reinickendorf, wo ich wohne, Sprengelkiez, Brunnenviertel, Osloer, ich war hier schon überall unterwegs. Nicht überall ist es so ruhig wie hier gewesen. An der Sprengelstraße damals, die Messer, die Jugendlichen, die haben sich gestritten, sagt Nazan Özbek, da hatte ich immer Angst, aber passiert ist nie was, zum Glück.

Und einmal stand vor einem Haus schon die Feuerwehr, aus dem ersten Stock kam dunkler Rauch, aber die Post, die haben die Leute an dem Tag trotzdem bekommen, ich hatte ja den Schlüssel, sagt Nazan Özbek.

Bei den Fischen sind Männer und Frauen gleich

Der Lärm der Schulstraße dringt kaum in die Hinterhöfe. Ein bulliger, unrasierter Mann in grüner Latzhose kehrt Laub auf. Nazan Özbek hat einen grauen Umschlag in der Hand, sie steckt ihn nach kurzem Zögern in einen Kasten, an dem das Schloss fehlt, die Tür steht halb offen. Ich sage es den Leuten tausendmal, sagt sie, aber sie hören nicht. Vom Arbeitsamt, stell dir mal vor.

Ich bin Fisch, sagt Nazan Özbek, mit einem Bein schon im nächsten gefliesten Eingang, Fisch wie Albert Einstein. Ja, ehrlich, weißt du, Fisch ist das einzige Sternzeichen, bei dem Männer und Frauen gleich sind. Geburtstag habe ich am gleichen Tag wie mein Vater, sagt sie, Superzufall, oder? Zuverlässig, treu, großzügig, sie zählt die Eigenschaften auf, so sind die Fische. Sie wirft den letzten Brief ein. Auch sensibel, sagt sie leise.

Dann rollt er schon wieder übers Pflaster, der gelbe Rasenmäher. Die lange, laute Schulstraße hinunter. Wenn man jeden Tag draußen arbeitet, sagt Nazan Özbek, wird man auch fröhlich. Merken Sie, ich lache immer!

Dem Autor bei Twitter folgen: @johehr.

Dieser Artikel erscheint auf unserem Wedding-Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.

Zur Startseite