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Berlin: Mit wehenden Fahnen

Von Sigrid Kneist So sieht also ein historischer Moment aus. Männer in müllsackähnlichen Hemden stehen mit einem Becher Kaffee in der Hand vor einem Werkstor, von einem Lautsprecherlastwagen hallen Parolen wie „Wir buckeln nicht, sondern gehen aufrecht in den Arbeitskampf“ über die Straße.

Von Sigrid Kneist

So sieht also ein historischer Moment aus. Männer in müllsackähnlichen Hemden stehen mit einem Becher Kaffee in der Hand vor einem Werkstor, von einem Lautsprecherlastwagen hallen Parolen wie „Wir buckeln nicht, sondern gehen aufrecht in den Arbeitskampf“ über die Straße. Hier und da wehen ein paar rote Fahnen, Zeitungsverkäufer linker Splittergruppen verteilen Blätter wie „Der Spartakist“ oder „Solidarität“. Seit gestern ist Streik in Berlin, und das ist wahrhaft etwas Besonderes. Seit 1930 hat es hier keinen Arbeitskampf in der Metall- und Elektroindustrie gegeben. Am Standort vom heutigen Daimler-Chrysler-Konzern in Marienfelde sogar seit 1918 nicht mehr, wie Klaus Benkel von der Streikleitung sagt.

Gegen 6 Uhr verlassen noch Beschäftigte der vorangegangenen Nachtschicht mit müden Gesichtern das Werksgelände. Die Frühschicht wird die Arbeit nicht aufnehmen. 24 Stunden lang wird die Produktion stillstehen. Das Daimler-Chrysler-Werk ist einer der vier Betriebe, mit denen die IG Metall in Berlin den Streik eröffnete. Für diesen findet der Chef des hiesigen Metall-Arbeitgeberverbandes (VME), Hartmann Kleiner, harsche Worte: Die Gewerkschaft nehme das Tarifgebiet „in Geiselhaft“. „Aufschwung statt Streik“ – dieser Slogan des VME hängt vielfach auf Großplakatwänden in der Stadt. Daimler-Chrysler, als einer der größten Berlin Metallbetriebe mit 3000 Beschäftigten, ist für die Gewerkschaft natürlich von besonderer Bedeutung und deswegen auch direkt am ersten Tag dabei. Mit dem IG-Metall-Vizechef Jürgen Peters und dem Bezirksvorsitzenden Hasso Düvel ist folglich auch gewerkschaftliche Prominenz vertreten. Unter die Streikenden hat sich Gabi Zimmer, die Bundesvorsitzende der PDS, gemischt. Sie will ihre Solidarität mit den Metallern zeigen, da der Trend der „Umverteilung von Unten nach Oben“ der letzten Jahre gestoppt werden müsse.

Rund 300 Streikposten sind an diesem Tag eingeteilt. Sie sollen dafür sorgen, dass niemand in den Betrieb kommen kann. Das weitläufige Werk hat neben dem Haupttor 1 viele weitere Eingänge. Eins der Drehkreuze, das zur Werksleitung, bewacht in den frühen Morgenstunden der Anlagenführer Siyami Pala mit einem Kollegen. Seit 20 Jahren arbeitet er im Werk. Für den Streik engagiert er sich, weil er das Arbeitgeberangebot, das in Berlin nach Gewerkschaftsangaben bei 2 Prozent lag, nicht akzeptabel findet. „Wir haben in den letzten Jahren zu starke Lohnzurückhaltung geübt, weil die Arbeitgeber versprochen hatten, Arbeitsplätze zu sichern“, sagt der 41-Jährige. Dieses Versprechen sei aber nicht gehalten worden, also müsse mehr Geld her. An seinem Drehkreuz-Posten gab es gestern Vormittag keine Zwischenfälle.

An einem anderen Tor versucht ein Angestellter mit einer dicken Aktentasche an einer Streikpostenkette in das Werk zu gelangen. Die Männer in ihren roten Sackhemden reden auf ihn ein, stehen ihm im Weg, lassen den Mann nicht passieren. Ali Erdogmus, Betriebsrat und Vertrauensmann der Gewerkschaft, führt den Mann zur Streikleitung. Dort soll überprüft werden, ob der Mann berechtigt ist, eine Sondergenehmigung zu erhalten. „Ist er bestimmt nicht“, da ist sich Erdogmus sicher. Mit der Werksleitung wurde zuvor abgestimmt, wer beispielsweise für Notdienste ins Werk gelassen wird. Auch 49 leitende Angestellte haben eine Sondergenehmigung erhalten. „Es ist nicht unsere Aufgabe, Manager von der Arbeit abzuhalten“, sagt Erdogmus.

In zwei Containern müssen sich die Streikenden registrieren lassen, hier erhalten sie ihren Streikausweis. Nur wer persönlich anwesend ist, kann nämlich Streikgeld bekommen. Zu Beginn hat sich eine kleine Schlange gebildet. Danach läuft alles ruhig und stetig, sagt Betriebsrätin Beate Rudolph, die für diesen Teil der Streikorganisation verantwortlich ist. Die Stimmung wirkt nicht besonders kämpferisch. Bei den Reden der Gewerkschaftsbosse Düvel („Wir sind die Einzigen, die die Lohnangleichung ernst nehmen“) und Peters („Die Arbeitgeber wollten uns vorführen“) bleibt der Applaus verhalten. Nur ein selbstgemachtes Transparent ist ausgebreitet. Als Liedermacher Eckart Franke von der Lastwagenbühne zur Gitarre mit „Keiner schiebt uns weg“ den Streikenden Mut machen will, zerstreut sich die Menge. So sind also historische Momente.

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