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Berlin: Mitte: Aufrecht und knorrig wie Queen Mum

Stummer Zeuge der preußischen Seidenbaukultur ist ein über 300 Jahre alter Maulbeerbum auf dem Gartengrundstück Friedrichstraße 129 in Berlin-Mitte. Gepflanzt im ausgehenden 17.

Stummer Zeuge der preußischen Seidenbaukultur ist ein über 300 Jahre alter Maulbeerbum auf dem Gartengrundstück Friedrichstraße 129 in Berlin-Mitte. Gepflanzt im ausgehenden 17. Jahrhundert von Sophie Dorothea, der zweiten Gemahlin des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, ist der knorrige Baum mit weit ausladenden Ästen schon so hinfällig, dass er von Stahlträgern gestützt werden muss.

Das Naturdenkmal erinnert an die Förderung der Seidenindustrie durch die Hohenzollern. Teure Importe aus Asien und Westeuropa wurden untersagt, statt dessen wies der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. seine Amtsleute und die städtischen Magistrate an, Stadtwälle, Friedhöfe, Alleen und Plätze mit Maulbeerbäumen zu bepflanzen, um darauf Seide "wachsen" zu lassen. Das begehrte Gespinst wird von Raupen erzeugt, die sich nach Verspeisen zahlloser Maulbeerblätter in Kokons einpuppen, ein Gehäuse, das aus einem bis 3000 Meter langen Seidenfaden gebildet wird. Die Akademie der Wissenschaften hatte für die Verarbeitung der Kokons das nötige Know-how zu beschaffen. Ihr Präsident Jacob Paul von Gundling, am Hofe des Soldatenkönigs zum Narren degradiert, wurde zum Aufseher über "alle Seidenwürme im ganzen Land" ernannt. Überall im Lande erschienen Bücher mit Anweisungen über die "Eigentliche Arth Den Seiden-Bau mit Nutzen und ohne besondere Mühe zu tractiren".

Um mit gutem Beispiel voran zu gehen, ließ Friedrich Wilhelm I. in Königs Wusterhausen Maulbeeralleen anlegen, doch auch in Berlin und Potsdam wurden die Bäume gehalten. Nur wenige haben die Zeiten überstanden, der knorrige Baum an der Friedrichstraße, in einem Hof schräg gegenüber vom Friedrichstadtpalast, ist ein solches Kulturdenkmal, das wie ein Wunder alle Revolutionen und Kriege überstanden hat.

Friedrich der Große, der 1740 den Thron bestieg, forderte seine Untertanen auf, in großem Stil Maulbeerbäume anzupflanzen. Auf dem Gelände nahe der Charité, wo man den letzten Maulbeerveteran bewundern kann, und in Niederschönhausen wurden tausende Maulbeerbäume gesetzt, große Plantagen gab es im Park des Schlosses Bellevue, dem heutigen Amtssitz des Bundespräsidenten, und am Neuen Palais in Potsdam. Um die Textilindustrie zu fördern, ließ der Alte Fritz Maulbeerbaumsamen und Jungpflanzen kostenlos an die Bevölkerung verteilen, außerdem wurde durch ein Edikte die Ausfuhr von Maulbeerbäumen verboten.

Ungeachtet vielfältiger Fördermaßnahmen erfüllten sich die Hoffnungen des Königs nicht, Preußen durch Eigenproduktion mit Seide zu versorgen und die teuren Textilien gewinnbringend zu exportieren. Frosteinbrüche ließen ganze Maulbeerplantagen sterben, allgemeines Desinteresse an der aufwändigen Baum- und Kokonpflege tat ein übriges. So kam die Seidenindustrie nach dem Tod des Alten Fritzen (1786) langsam zum Erliegen. Bliebe zu sagen, dass das Thema erst wieder im Zweiten Weltkrieg aufgegriffen wurde, als man Seidenstoffe vor allem für Fallschirme brauchte. Die Wehrmacht kaschierte die militärische Verwendung als späte Verwirklichung von Plänen Friedrichs des Großen.

Helmut Caspar

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