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Berlin: Mordkommission (5): Alles war wie immer

Auf dem Foto zielt Tay Lins Blick ins Leere. Sie lächelt artig, das schwarze Haar hinters Ohr geklemmt.

Auf dem Foto zielt Tay Lins Blick ins Leere. Sie lächelt artig, das schwarze Haar hinters Ohr geklemmt. Als Tay Lin ums Leben kam, war sie erst zwölf. An jenem Sonntag, als ihre beiden erwachsenen Geschwister zur Arbeit gingen, blieb das Mädchen allein zu Hause. Das Wort der Älteren galt noch als Gesetz: Tay Lin putzte die Wohnung, räumte auf - bis sie ihrem Mörder gegenüberstand.

Es war der 17. Dezember 1995, gegen 13 Uhr 30, als in der Nachbarwohnung der Fernseher von Schreien und Poltern übertönt wurde. Die Kinder vor dem Gerät schauten kurz auf, dachten sich nichts weiter und guckten weiter. Nebenan blieb nun alles ruhig. Tay Lins 20-jährige Schwester muss die unnatürliche Stille gespürt haben, als sie gegen 23 Uhr nach Hause kam: Tay Lin lag nicht in ihrem Bett, die Schwester fand ihre Leiche in der leeren, kalten Badewanne. Der Mörder hatte das Kind mit einem Messer attackiert, ihm in die Brust, den Hals gestochen und schließlich die Kehle durchschnitten.

Vielleicht fühlte der Täter Mitleid, wahrscheinlich nur Gleichgültigkeit. Das Leben des Kindes war in der Welt der Erwachsenen zum Spielball geworden. So platt es klingt: Tai Lyn musste sterben, weil sie geliebt wurde - das zumindest vermutet die Polizei: "Offenbar sollte die Mutter bestraft werden, indem man ihr das Liebste nahm, was sie hatte: die Tochter", sagt Norbert Preuschoff, Leiter der 9. Mordkommission. Der blonde Polizist trägt an diesem Vormittag Jeans und ein Polohemd, um seinen Hals hängt eine dünne goldene Kette, daran ein Playboy-Bunny als Anhänger. Statt auf die sonst fast obligatorische Berlin-Karte blicken die Besucher in seinem Büro auf die Vereinigten Staaten. Bunte Stecknadeln durchziehen Florida und Kalifornien.

Immer wieder greift Preuschoff an seinem Schreibtisch nach einem der drei Aktenordner, blättert sich durch Tay Lins kurzes Leben und ihren bislang ungesühnten Tod. Im Jahr 1982 war Tay Lins Mutter vor den kommunistischen Machthabern aus ihrer alten Heimat Vietnam geflohen. Als Boatpeople kam die schwangere Frau mit ihren beiden ältesten Kindern nach Deutschland und ließ sich im Westteil Berlins nieder. Hier wurde wenig später die jüngste Tochter Tay Lin geboren. Der Vater hatte die Familie bereits in Vietnam verlassen. Er lebt in den USA.

Es gelang Tay Lins Familie schnell, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Die Mutter eröffnete zwei Asia-Imbiss-Läden, einen in der Augsburger, einen in der Lietzenburger Straße. Als die beiden älteren Kinder die Schule hinter sich gelassen hatten, stiegen sie in das Geschäft der Mutter ein, Tay Lin wechselte nach der Grundschule auf ein Schöneberger Gymnasium. Die Vier hatten vor Jahren die vietnamesische gegen die deutsche Staatsbürgerschaft ausgetauscht.

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Es lief gut für die Familie, nach Preuschoffs Ansicht zu gut. "Einen Racheakt vietnamesischer Neider", vermutet der Kommissar als Motiv. "Oder einen Anschlag der Zigarrettenmafia." In Tay Lins Familie stießen die Ermittler auf eine Mauer des Schweigens: Nein, sie habe niemand in Verdacht, erklärte die Mutter der Polizei. Streit mit Landsleuten gab es nach ihren Angaben nicht. Auch keine Drohungen. Die Polizei vermutet, dass die Frau aus Angst schweigt. "Aber wahrscheinlich liegt das auch an der Mentalität", sagt der Kommissar. Er glaubt, zwischen den kurzen Antworten der Mutter noch eine andere Botschaft vernommen zu haben: "Ich bin bestraft worden und akzeptiere die Bestrafung, auch um mich und meine anderen Kinder zu schützen."

Erneut blättert Preuschoff in einer der Akten, verharrt bei den Aussagen von Tay Lins Schulkameraden: "Ich glaube nicht, dass sie Feinde hatte", gab Tay Lins Freundin Pia nach dem Mord zu Protokoll. Die beiden Mädchen hatten sich oft gegenseitig besucht, waren gemeinsam ins "Blub" zum Schwimmen gegangen, hatten kürzlich Weihnachtsgeschenke eingekauft. Nie seien sie von Fremden verfolgt oder angesprochen worden. Wirkte Tay Lin manchmal ängstlich? Nein, sagte Pia, alles war wie immer.

Hier auf dem Winterfeldtplatz muss der Mörder gestanden haben, als Tay Lins Geschwister zur Arbeit aufbrachen. Zwischen den Cafés, Natur-Drogerie und der Neuland-Fleischerei werden Menschen, die nach einem ungeklärten Mordfall fragen, eher argwöhnisch begutachtet. An Tay Lin scheinen sich in der Winterfeldtstraße nicht viele zu erinnern. "Ja, da war mal was", sagt eine Fußgängerin knapp. "Das Mädchen kannten wir nicht", ein junges Paar. Die Haustür des grauen Neubaus bleibt verwaist, der Name der Familie steht hier noch immer auf dem Klingelschild.

Als die 8. Mordkommission mit dem Fall nicht weiterkam, übergab sie ihn 1997 an Preuschoff und seine Kollegen. Erneut wurden Akten gewälzt, Zeugen befragt, Spuren verfolgt. "Man greift einfach nach jedem Strohhalm", sagt der Kommissar. Bereits im Frühherbst 1995 war in die Wohnung der Familie an der Winterfeldtstraße eingebrochen worden. Zeugen beobachteten damals, dass mehrere Asiaten das Haus mit vollen Plastiktüten verließen. Gestohlen wurden mehrere tausend Mark und Schmuck von nicht unbeträchtlichem Wert. Zumindest den Einbruch konnte "die Neunte" aufklären. "Es handelte sich um eine vietnamesische Bande, die sich auf Wohnungseinbrüche spezialisiert hat", sagt Preuschoff. Dem Mörder kamen die Ermittler deshalb nicht auf die Spur.

Zwei Strohhalme bleiben den Ermittlern noch. Winzige Spuren, die sie am Tatort gefunden haben. Beweise, die 1995 ohne die inzwischen ausgefeilten Möglichkeiten der DNA-Analyse nutzlos schienen, aber jetzt in aufwändigen Verfahren überprüft werden. Nichts als Strohhalme. "Wenn die Spuren von den Familienmitgliedern stammen, können wir die Akten vermutlich zuklappen", sagt Preuschoff.

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