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Berlin: Mutige Auslese

Lange nach der Schule haben sie schreiben gelernt – nun wurden ihre Texte von Stars vorgetragen

Burhan ist 36 Jahre alt, Heizungs- und Lüftungsanlagentechniker, funktionaler Analphabet und Literat. Sebastian Koch, der Schauspieler („Die Manns“, „Speer und Er“), liest gerade seinen prämierten Text über die Unmöglichkeit, ein Haus zu erwerben und gleichzeitig den Großvater ins Altersheim abzuschieben. Koch kriecht in den Text hinein, um alles aus ihm herauszuholen. Burhan lächelt stolz, nickt an den Stellen, die wichtig sind. Nachher wird Sebastian Koch ihm seine E-Mail-Adresse geben, damit er auch die Texte lesen kann, die Burhan noch gar nicht geschrieben hat.

Es gibt viele Literaturwettbewerbe in Deutschland, dem Land der Bücherleser und Rechtschreibreformer. Der Wettbewerb „Wir schreiben“ ist anders, weil Menschen daran teilnehmen, die immer geglaubt haben, gar nicht schreiben zu können. „Funktionale Analphabeten“ werden sie in der Wissenschaft genannt – funktional, weil sie eine Schule besucht haben, ohne richtig lesen und schreiben zu lernen. Vier Millionen solcher Analphabeten soll es in Deutschland geben.

Am gestrigen UN-Alphabetisierungstag wurden Burhan und die anderen Sieger des Literaturwettbewerbs in der saarländischen Landesvertretung geehrt. Die Schauspielerin Andrea Sawatzki, im rosa Sommerkleid, las die Texte der weiblichen Siegerinnen, Sebastian Koch, offenes Hemd und Jackett, die der männlichen. „Der Mut der Teilnehmer, die Deckung der Anonymität zu verlassen, hat mich sehr beeindruckt“, sagte Koch.

360 Einsendungen waren bei der Jury eingegangen, fünf wurden prämiert. Alle Teilnehmer haben einen Alphabetisierungkurs der Volkshochschulen besucht oder – mehr oder weniger anonym – auf dem Internetportal „ich-will-schreiben-lernen.de“ geübt. Weil viele Analphabeten schlecht lesen können, arbeitet das Portal mit Symbolen und Bildern.

Esma, eine junge Tunesierin aus Hamburg, hat ihre Erfahrungen als Zwangsverheiratete aufgeschrieben. Wie sie ungebildet, stumm und eingeschüchtert in einem roten Opel nach Deutschland verfrachtet wurde, um Kinder zu gebären oder vor dem Fernseher zu hocken. Das Schreibenlernen war Teil ihres schmerzhaften Emanzipationsprozesses.

Bei Uwe, einem 38-jährigen Lageristen aus der Nähe von Kassel, verlief die Sache mit dem Analphabetismus weniger dramatisch. In seinem Job muss er nur Kennziffern eingeben – sowas wie „DE38“. Auf dem Internetportal hat er in einem Jahr alle Lerneinheiten durchgearbeitet. Gute Geschichten erzählen konnte er schon immer. Nun traut er sich endlich, sie aufzuschreiben.

Die meisten Analphabeten haben eine klassische deutsche Schulkarriere hinter sich, nur verlief sie eben sehr negativ oder endete vorzeitig. Unter den mutigen Analphabeten – also denen, die in einem VHS-Kurs lesen und schreiben lernen – haben 60 Prozent keinen Schulabschluss, 70 Prozent keinen beruflichen Abschluss und 40 Prozent keinen Job.

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