zum Hauptinhalt
Als 2006 der Prozess gegen Sabine H. vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) stattfand, nahm die Öffentlichkeit großen Anteil.

© Jan Woitas/dpa-pa

Mutter ließ neun Babys sterben: Sabine H. darf das Gefängnis verlassen

Neun Babys ließ Sabine H. sterben, nun will sie sich um ihre vier lebenden Kinder und die Mutter kümmern. Nach zehn Jahren wird ihre Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

Von Sandra Dassler

Sie hat wenig geredet vor Gericht. Zuvor bei der Polizei hatte sie einmal erzählt, dass sie alle ihre Kinder geliebt habe – auch die neun, die sie kurz nach der Geburt sterben ließ. Weil sie sich nicht von ihnen trennen wollte, habe sie die Babyleichen in zu Pflanzgefäßen umfunktionierten Eimern, Aquarien und einer Kinderbadewanne vergraben und Blumen darüber gepflanzt – Tränendes Herz zum Beispiel. Sie habe dazwischengesessen, auf dem Balkon, und sich vorgestellt, dass alle neun Kinder am Leben sein könnten, dass sie um sie herumspringen, lachen.

Aber ihr Mann habe ja keine Kinder mehr haben wollen. Deshalb durften sie nicht leben. War das ihre Schuld? Was hätte sie tun sollen? Dann habe sie wieder zur Schnapsflasche gegriffen...

Der Fall erschütterte im Sommer vor zehn Jahren nicht nur Deutschland. In der kleinen Gemeinde Brieskow-Finkenheerd wurden die sterblichen Überreste von neun Babys gefunden – zwei Mädchen, sieben Jungen. Schnell wurde klar, dass die Mutter, eine damals 39-jährige Frau aus Frankfurt (Oder), die Kinder zwischen 1988 und 1999 geboren hatte.

Im Gefängnis hat sie Chinesisch und Malen gelernt

Zehn Monate später, am 1. Juni 2006, dem Weltkindertag, wurde Sabine H. wegen achtfachen Totschlags durch Unterlassen (die Tötung von 1988 war nach DDR–Recht verjährt) zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Nun hat sie zwei Drittel ihrer Strafe abgesessen und darf das Gefängnis verlassen. Über ihren Rechtsanwalt Matthias Schöneburg hatte sie die vorzeitige Haftentlassung beantragt. „Die Vollstreckungskammer am Landgericht Cottbus hat die Reststrafe meiner Mandantin am Mittwoch zur Bewährung ausgesetzt", sagte ihr Anwalt. "Sie ist sehr froh darüber und wird alle Auflagen des Gerichts erfüllen.“ Die Entscheidung ist nun rechtskräftig.

Seine Mandantin sei eine Vorzeige-Insassin gewesen, sagte Schöneburg, "sie hat sich gut geführt, im Gefängnis Chinesisch und Malen gelernt und ein Psychologiestudium begonnen.“

Vielleicht hilft Letzteres der gelernten Zahnarzthelferin ja, wenigstens in Ansätzen zu begreifen, wie es zu den unfassbaren Taten kommen konnte. Schließlich war Sabine H. als Nesthäkchen wohlbehütet aufgewachsen, hatte keine Probleme in der Schule und hätte durchaus studieren können. Doch sie spürte, dass das ihrer Familie nicht recht war. Einer Familie, in der offenbar nicht viel geredet wurde. Schon gar nicht über Unangenehmes. So hatte Sabine H. lange geglaubt, sie habe eine jüngere Schwester. Die war aber eigentlich die Tochter ihrer älteren Schwester, also ihre Nichte.

Der Mann bemerkte nichts – oder wollte nichts bemerken

Mit 17 traf Sabine H. ihren späteren Mann Oliver, verliebte sich, war kurz darauf schwanger. Sie heiratete, bekam nach der Tochter noch zwei Söhne und Ärger mit ihrem Mann. Denn der hatte schon das dritte Kind nicht gewollt und einen Tobsuchtsanfall bekommen. Ob das Paar über Verhütung redete oder Oliver davon ausging, dass dies allein das Problem seiner Frau sei, wurde auch im Prozess nicht ganz klar. Als Sabine H. erneut schwanger wurde – angeblich vertrug sie die Pille nicht –, sagte sie das jedenfalls nicht ihrem Mann, sondern erwartete, dass dieser es irgendwann bemerken würde. Doch Oliver H. bemerkte nichts oder wollte nichts bemerken.

Eines Nachts sei das Kind geboren worden und in die Toilettenschüssel gefallen, hatte Sabine H. bei der Vernehmung gesagt. Sie sei im Bad ohnmächtig geworden und als sie wieder zu sich kam, sei das kleine Mädchen tot gewesen. Sie habe es in ein Handtuch gewickelt, eine Flasche Schnaps getrunken und das Kind auf dem Balkon in einem Blumengefäß vergraben. Ihr Mann habe geschlafen. Aus Angst, er könne sie verlassen und die drei lebenden Kinder mitnehmen – er arbeitete hauptamtlich bei der Stasi –, habe sie ihm das Geschehen und auch die nächsten acht Schwangerschaften verschwiegen.

"Sie ist doch gestraft genug"

Doch kann es sein, dass ein Ehemann neun Mal nicht bemerkt, dass seine Frau schwanger ist und immer dicker wird? War ihm entgangen, was Nachbarn oder Kollegen durchaus auffiel, wobei Erstere nicht nachfragten und Letztere die Antwort erhielten: „Ich habe nur zu viel gegessen“? Wurden die Kinder neun Mal zu Zeiten und an Orten geboren, wo niemand etwas mitbekam? Der Prozess lieferte auf alle diese Fragen keine Antworten. Sabine H. schwieg, und am Ende stand für die Richter lediglich fest, dass sie neun Kinder nach der Geburt unversorgt sterben ließ.

Sie selbst wollte oder konnte sich an fast nichts mehr erinnern – wohl auch, weil sie immer mehr getrunken hatte, besonders nachdem Oliver sich scheiden ließ. Vor Gericht machte er 2006 ebenso wie die drei fast schon erwachsenen Kinder von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Da hatte Sabine H. noch eine Tochter bekommen. Sie blieb am Leben – wohl auch, weil der damalige Gefährte von Sabine H. sich nicht über ihre Umstände täuschen ließ und sie zum Arzt schleppte.

Die jüngste Tochter ist jetzt zwölf und lebt bei der Nichte, sagt Anwalt Schöneburg: „Sie besucht ebenso wie die erwachsenen Kinder ihre Mutter oft im Gefängnis – meine Mandantin würde also bei einer Haftentlassung nicht ins Nichts fallen. Sie hat auch Kontakt zu ihrer ältesten Tochter und möchte sich vor allem um ihre schon betagte Mutter kümmern.“ Der wichtigste Grund, der für eine Haftentlassung spreche, sei aber, dass von Sabine H. keine Gefahr ausgehe. „Mal abgesehen davon, dass sie ohnehin keine Kinder mehr bekommen kann, war sie ja keine eiskalte Mörderin, die Freude an ihren Taten hatte – im Gegenteil: Sie bereut sie zutiefst.“

Vor der Haft trank sie manchmal drei Flaschen Korn am Tag

Deshalb wolle seine Mandantin auch mit Hilfe einer Psychotherapie versuchen, sich dem, was geschehen sei, zu stellen, sagt Schöneburg. Im Gefängnis sei das für sie nicht möglich gewesen. Alkohol habe sie seit Beginn ihrer Haftstrafe nicht mehr getrunken – ohne Entzugserscheinungen, obwohl sie in den Jahren davor manchmal drei Flaschen Korn am Tag konsumierte. Das spreche mehr für eine seelische als für eine körperliche Abhängigkeit, meint der Anwalt.

„Sie ist ja auch eine arme Seele“, sagt Susanne Seehaus. Die evangelische Pfarrerin hat vor zehn Jahren in der Frankfurter Marienkirche eine Trauerandacht für die neun getöteten Kinder organisiert – und für deren Mutter: „Sie muss sich in einer für sie völlig ausweglosen, verzweifelten Lage befunden haben. Nicht nur aus Gründen der christlichen Barmherzigkeit hätte ich nichts gegen eine vorzeitige Entlassung. Vielleicht hilft es ihr, wenn sie sich jetzt um Menschen, die ihr lieb sind, kümmern kann.“

Die Anhörung zum Antrag auf vorzeitige Haftentlassung findet wie immer in solchen Fällen nicht öffentlich statt. Gehört wird dabei auch die zuständige Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder). Eine Sprecherin wollte sich im Vorhinein nicht dazu äußern, ob man dem Antrag zustimmen wird. Anwalt Schöneburg hat für den Fall, dass das Gericht nicht im Sinne seiner Mandantin entscheidet, bereits angekündigt, Beschwerde beim Oberlandesgericht einzulegen.

Es gibt kein Grab für die neun Babys

In Brieskow-Finkenheerd, wo die toten Babys gefunden wurden, ist die Stimmung in diesen Tagen geteilt: „Neun Mal Leben – das kann man nicht sühnen“, sagt eine Frau: „Sie hätte lebenslänglich verdient, wie die Staatsanwaltschaft gefordert hatte.“ Eine andere Frau widerspricht: „Wenn sie weiter im Gefängnis bleibt, nutzt das auch keinem. Sie ist doch gestraft genug, wenn sie am Grab ihrer Kinder stehen muss.“

Doch es gibt kein Grab. Die sterblichen Überreste der namenlosen Babys wurden – nachdem alle für den Prozess notwendigen medizinischen Untersuchungen stattgefunden hatten – anonym auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt, kurz vor Weihnachten 2007. Nur die Eltern Sabine und Oliver H. hatte man über den Termin informiert, um ihnen einen Abschied zu ermöglichen. Beide kamen nicht.

Zur Startseite