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Nach Bluttat in Kreuzberg: Schizophrenie bei Orhan S. diagnostiziert

Ist Orhan S. nicht schuldfähig? Gegen ihn wird derzeit nur wegen Totschlags, aber nicht wegen Mordes ermittelt. Er befindet sich im Moment in einer geschlossenen Psychiatrie. Wenn seine Diagnose "paranoide Schizophrenie" bestätigt wird, kommt es eventuell nicht einmal zu einem Prozess.

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Er nahm Medikamente ein, war wegen seiner psychischen Erkrankung auch schon im Krankenhaus: Paranoide Schizophrenie hat ein psychiatrisches Gutachten dem 32-jährigen Orhan S. bescheinigt, der am Montag seine zwei Jahre jüngere Ehefrau Semanur S. in Kreuzberg auf grausame Art und Weise umgebracht hat. Damit gilt er als nicht – oder nur stark eingeschränkt – schuldfähig. Aus diesem Grund muss er nicht in Untersuchungshaft, sondern befindet sich in einer geschlossenen Psychiatrie im Maßregelvollzug.

Weil die nach deutschem Recht geltenden Mordmerkmale wie Habgier, Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Heimtücke und Grausamkeit nicht gegeben sind, wird gegen Orhan S. derzeit auch nur wegen Totschlags ermittelt. Das Mordmerkmal der Grausamkeit ist nicht erfüllt, weil er seine Frau erst köpfte und zerstückelte als sie schon tot war. Sie starb nach bisherigen Erkenntnissen an den Stichverletzungen, die ihr Mann ihr zufügte. Während Mord mit lebenslanger Haft bestraft wird, kann ein Totschläger mit fünf Jahren Gefängnis davonkommen.

Das Krankheitsbild Paranoide Schizophrenie ist nicht ungewöhnlich bei Straftätern. Beispielsweise war auch dem Osloer Amokläufer Anders Behring Breivik in einem ersten Gutachten eine paranoide Schizophrenie bescheinigt worden. Ein zweites Gutachten kam zu einem anderen Schluss. Studien zufolge leidet etwa ein Prozent der deutschen Bevölkerung an dieser Krankheit. Betroffene haben in akuten Phasen gestörte Wahrnehmungen und Wahnvorstellungen oder hören Stimmen, „aber nur ganz selten ist deswegen das Gewaltpotenzial erhöht“, sagt Viktoria Toeller vom Kompetenznetz Schizophrenie. Erst, wenn beispielsweise die Medikamente abgesetzt werden oder Drogenkonsum dazukommt, könne die von Betroffenen ausgehende Gefahr größer sein.

Video: Gedenkfeier für Semanur S.

Glaubt man Nachbarn von Orhan S. soll er seine Medikamente vor einigen Wochen abgesetzt haben. Auch von Drogeneinfluss während der Tat war die Rede, bestätigt worden ist dies nicht. Freundinnen von Semanur S., denen sie sich zuvor anvertraut und ihre Angst vor dem Ehemann offenbart hatte, machen sich Vorwürfe. Doch ob sie Semanur S. hätten helfen können, ist fraglich. Im Ernstfall gestaltet es sich schwierig, psychisch Erkrankte vor sich selbst oder andere Menschen vor ihnen zu schützen. Es bedarf der Zwangseinweisung, und die kann von Ordnungsamt und Polizei erst vollzogen werden, wenn von ihm eine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben ausgeht und die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt wird, sagt Viktoria Toeller.

Unabhängig davon hätten Bekannte oder Nachbarn die Polizei benachrichtigen können. Viele würden jetzt berichten, dass es schon öfter lautstarke Auseinandersetzungen und offenbar auch Gewalt von Orhan S. gegen seine Frau gegeben habe, wundert sich der Psychologe Kazim Erdogan: „Warum hat keiner etwas unternommen? Auch auch unter Familien mit Migrationshintergrund hat sich längst herumgesprochen, dass Gewalt gegen Frauen oder Kinder Unrecht ist und bestraft wird.“

Tatsächlich wird die BIG-Hotline (Hilfe bei häuslicher Gewalt – Telefonnummer 611 03 00) inzwischen auch oft von Migrantinnen genutzt, die in ihrer Beziehung Gewalt erleben. Oder von ihren Kindern, die unter Gewalt zwischen den Eltern zu leiden haben, sagt Beate Köhn vom Notdienst Kinderschutz. Dieser kümmert sich auch um die vier Söhne und zwei Töchter von Orhan und Semanur S. Die Kinder im Alter zwischen elf Monaten und 13 Jahren bleiben erst einmal zusammen und werden von Therapeuten betreut. „Gleichzeitig sind wir natürlich im Kontakt mit Verwandten, um nach den besten Lösungen für die Zukunft zu suchen“, sagt Köhn. Allerdings müssten die Angehörigen momentan selbst erst mal mit dem Schock und der Trauer fertig werden.

Kazim Erdogan, der die Väterinitiative „Aufbruch Neukölln“ leitet, hat inzwischen ein Spendenkonto für die Kinder bei der Berliner Sparkasse (Bankleitzahl 100 500 00) eingerichtet: Kontonummer: 660 30 77 858, Stichwort: Sechs Kinder.

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