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Nach langer Krankheit: Kardinal Georg Sterzinsky gestorben

Er hatte sich gequält, monatelang. Zwischenzeitlich gab es die vage Hoffnung, dass sich sein Gesundheitszustand noch einmal bessern würde. Doch am Donnerstagmorgen kam die Nachricht: der frühere Berliner Erzbischof, Kardinal Georg Sterzinsky ist tot.

Seit Monaten hatten Pfarrer, Mitarbeiter in den Gemeinden und Katholiken überall in Berlin für ihren Kardinal gebetet. Die Sorge war groß. Bei einem Empfang zu seinen Ehren vor einigen Wochen war sie greifbar. Man hatte die Häppchen von der Folie befreit und Wein und Sekt bereit gestellt. Aber dann machte sich an diesem Abend auf einmal die große Unsicherheit breit in den hellen Räumen des Kathedralforums hinter der Hedwigs-Kathedrale in Berlins Mitte. Ist das hier nicht alles total schräg? Dürfen wir hier trinken, essen und fröhlich sein, wenn gleichzeitig der Erzbischof im Sterben liegt? Sie wollten ihm ein Buch überreichen zu seinem 75. Geburtstag. „Erzbistum Berlin: Gesichter und Geschichten“ heißt das Buch. Es enthält Porträts, Interviews und Berichte über und mit Pfarrern und engagierten Berliner Katholiken. Eine Art „bunter Blumenstrauß“ sollte es sein, eine Überraschung.

Der Kardinal hatte die Monate und die Tage gezählt bis zu seinem 75. Geburtstag. Der 9. Februar 2011 sollte den Beginn eines neuen Lebensabschnittes markieren, einen ohne die Last des Amtes. Im Herbst hatte er nach Rom geschrieben und sein Amt zur Verfügung gestellt. Andere Kardinäle machen dies vor ihrem 75. Geburtstag pro forma, 75 ist kein Alter, in dem Kardinäle an den Ruhestand denken. Doch Sterzinsky meinte es ernst. Er wollte nicht mehr, das Amt war ihm nur noch Last. Doch er verbrachte den Geburtstag im Krankenhaus, auch damals schon vom Tod gezeichnet. Seit Jahren war er schwer zuckerkrank gewesen, und das Laufen war ihm zunehmend schwer gefallen. Im vergangenen Jahr hatte er Messen oft nur noch im Sitzen zelebriert. Dann hatte sich auch noch im Magen Krebs festgesetzt. Ende Januar wurde Sterzinsky zwei Mal operiert. Doch sein Zustand wollte sich nicht mehr bessern, so dass sich die Ärzte gezwungen sahen, ihn in ein künstliches Koma zu versetzen.

Offiziell mochte darüber niemand sprechen. Und so biss sich Stefan Förner, der Sprecher des Erzbistums an jenem Abend im Kathedralforum auch immer wieder nervös auf die Lippen. Was sollte er sagen? „Es war immer schwerer als ich erwartete“, hatte der Kardinal in einem Interview für das Blumenstrauß-Buch gesagt. „Aber die Gnade war auch immer größer.“ Als die Lesungen aus dem Buch zu Ende waren, Schnittchen und Wein warteten und sich überall im Raum eine verhaltene, unsichere Stimmung ausbreitete, nahm Stefan Förner den Kardinal bei seinen Worten und sagte: „Ich wünsche ihm diese Gnade auch in dieser Stunde – und denke, dass wir uns trotzdem über das Buch freuen können.“ Das Buffet war eröffnet. Und während die Gäste noch ein paar Stunden bei Wein und Speisen beisammenstanden, fehlte der Kardinal und war doch anwesend – in den Gesprächen.

Die Journalistin von der Kirchenzeitung erzählte von einem Interview mit dem Kardinal und wie erschüttert sie gewesen sei. Auf die Frage, wer als Kind seine Bezugsperson gewesen sei, wer ihn in den Arm genommen und lieb gehabt habe, sei ihm keine Antwort eingefallen. Die Mutter? Sie starb, als er elf Jahre alt war. Nach langem Überlegen habe er sich an eine Lehrerin erinnert und an einen Jesuitenpater, bei dem er Ministrant war und der ihn mochte, einfach so, ohne Bedingung, auch wenn er mal wieder ausrastete.

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Menschen mit selbstverständlichem, bodenständigem Glauben gaben ihm Halt: der Vater, die frommen Geschichten, die seine Großmutter erzählte. Er hätte auch Philologie oder Medizin studieren können, entschied sich aber für Theologie. Er wollte Seelsorger werden und gerade für solche bodenständigen Menschen da sein. 1960 wurde er in Erfurt zum Priester geweiht. Weil sich der Vater nicht von seinem Pfarrerssohn distanzieren wollte, als dieser seinen ersten Gottesdienst in der Heimatgemeinde feierte, verlor er einen Posten in einer volkseigenen Ziegelei und musste sich fortan als Hilfsarbeiter verdingen. Dass sein Vater das für ihn in Kauf genommen habe, diese Haltung habe ihm gut getan und ihn gestärkt, vertraute Sterzinsky in seinem letzten Interview der Kirchenzeitungs-Journalistin an.

Er ging zunächst als Kaplan ins thüringischen Eisenach, dann leitete er als Pfarrer in Jena eine der größten Gemeinden in der DDR. „Wie oft hat er in den letzten Jahren gesagt: damals, als ich noch ein guter Pfarrer in Jena war“, erinnert sich ein anderer Gast im Kathedralforum an jenem Donnerstagabend im Februar. Als Pfarrer in Jena habe er sich aufgehoben gefühlt, er sei angekommen gewesen bei sich und seinem Tun. Er habe nie ein hohes Amt angestrebt.

Demutsbekundungen gehören bei Kirchenmännern zum täglichen Geschäft. Aber Sterzinsky nahm man ab, dass er lieber Pfarrer geblieben wäre. Er war ein bescheidener Mann, was nicht nur seine große, aus der Zeit gefallene Brille signalisierte. Er machte nicht gerne Aufhebens um sich, stand lieber abseits als im Rampenlicht.

1981 wollte ihn der Erfurter Bischof zum Verwaltungschef in seinem Bistum machen. Sterzinsky hielt das von seinem Naturell her für ausgeschlossen und zögerte, sagte dann aber doch zu. Wenige Monate vor dem Mauerfall wurde er Berliner Bischof.

In der Großstadt fremdelte Sterzinsky von Anfang an, besonders im Westteil. „Der Pluralismus, die Medien haben ihm zu schaffen gemacht“, sagt ein anderer Wegbegleiter. Im Osten hätten sich alle geduzt, und jede Gemeinde freute sich, wenn er zur Firmung vorbei gekommen sei. Im Westen habe er sich da nicht so sicher sein können. Das habe ihn sehr verunsichert. Eigentlich habe er sich gar nicht so richtig in die Gemeinden im Westen getraut – und sollte doch das geteilte Bistum nach der Wende zusammenführen.

Sterzinsky war aber wenig zurückhaltend, wenn es darum ging, die schöne neue kapitalistische Welt zu kritisieren. Er polterte gegen die „Konsumtempel“ am Potsdamer Platz und legte sich mit den Bauherren an, weil sie Obdachlose und Bettler aus der Glitzerwelt vertreiben wollten. Um am politischen Rad mitzudrehen, fehlte es ihm an diplomatischem Geschick. Wenn er allerdings das Gefühl hatte, die Politik gehe auf Kosten der Benachteiligten, scheute er sich auch nicht, sich mit dem politischen Establishment anzulegen. Da kam ihm auch zuweilen sein Jähzorn gerade recht. Den Unionsparteien wollte er das „C“ absprechen und nannte ihre Ausländerpolitik „eine Schande“. Gemeinden, die Flüchtlingen „Kirchenasyl“ boten, unterstützte er und setzte die couragierte Schwester Cornelia Bührle als eigene Ausländerbeauftragte ein. Zur Begrüßung bewirtete er sie mit Pflaumenkuchen und Schlagsahne, erinnert sich Schwester Bührle in dem Blumenstrauß-Buch. Er stand auf und schenkte ihr aufmerksam Kaffee nach, was sie genauso beeindruckte, wie seine gerade Haltung in allen auländerpolitischen Fragen.

Als erster deutscher Bischof prangerte Sterzinsky auch das Problem der so genannten illegalen Zuwanderer an und forderte von der Politik Antworten. Dass ihm Flüchtlingsschicksale so sehr ans Herz gehen, mag damit zu tun haben, dass er selbst Flüchtling war. Er stammte aus Warlack in Ostpreußen. Als er drei Jahre alt war, begann der Zweite Weltkrieg. Die Eltern verschlug es mit ihren sechs Kindern nach Thüringen. Er habe keine leichte Kindheit gehabt, sagte er einmal. Er wusste, wie Hunger schmeckt.

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Georg Sterzinsky war aber keiner, der jammert. „Gott ist immer größer“, hieß sein Bischofsmotto. Was Gott ihm auferlegt, wird er ihm auch tragen helfen, davon war er fest überzeugt. Daran klammerte sich in den vergangenen Jahren, als es wegen der großen Schuldenkrise des Erzbistums sehr unangenehm für ihn wurde. Sterzinsky hatte die Doppelstrukturen aus West- und Ost-Bistum auch dann noch beibehalten, als diese längst nicht mehr zu finanzieren waren. Er konnte nicht Nein sagen. Er leide unter Auseinandersetzungen, gestand er einmal im Gespräch mit Schülern. Streit, sagte er, widerspreche seiner „Charakteranlage“. Dies führte dazu, dass er Bittstellern schwer etwas abschlagen konnte.

Mit seinem Wissen wurden deshalb erst die Rücklagen aufgelöst und dann Millionen-Kredite aufgenommen. Bis Anfang 2003 hatte das Berliner Erzbistum 148 Millionen Euro Schulden angehäuft. Hunderte Mitarbeiter mussten entlassen, Gemeinden zusammengelegt, Kirchen verkauft werden. Wo er auch hinkam, musste sich Sterzinsky Wut und bittere Vorwürfe anhören. Katholiken und Kirchenmitarbeiter schwärzten ihn in Rom an, seine Bischofskollegen verlangten Antworten. Erst nach etlichen Wochen übernahm er in einem Brief an die Gemeinden die Verantwortung für die finanzielle Katastrophe. Da war schon viel Vertrauen zerstört. Als er dann noch bei einer öffentlichen Veranstaltung in der Katholischen Akademie bekannte, dass er es „ungerecht“ findet, „dass die Oberen gehen müssen, wenn auf der unteren Ebene etwas schief läuft“, überlegten etliche Katholiken im Bistum, ob ihr Bischof den Kontakt zur Realität verloren habe. Die Aufräumarbeiten dauern bis heute an. Die Wut ist verflogen, richtig gut ist die Stimmung im Bistum aber nicht mehr geworden.

Und doch: Wer Kardinal Sterzinsky predigen hörte, wer ihm im persönlichen Gespräch begegnete, war beeindruckt, wie nah er Menschen kommen konnte. „Nicht heute, nicht morgen, aber Sie werden in Ihrem Leben an Stationen kommen, in denen Sie an meine Worte denken werden, an die Worte eines alten Mannes“, das habe ihm Sterzinsky bei seiner Taufe gesagt, erzählte ein Mann um die 40 an jenem Abend vor ein paar Wochen im Kathedralforum. Die Häppchen waren gegessen, der Wein getrunken. Der Mann hatte erst später in seinem Leben zum Glauben gefunden. Sterzinsky habe recht behalten, sagte er. Nach einem Schicksalsschlag wisse er heute: Gott ist tatsächlich immer größer, Gott verlasse ihn nicht. Der Berliner Erzbischof, Kardinal Georg Sterzinsky, wird nicht vergessen werden.

Claudia Keller

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