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Alexander Salessoff, damals ohne "von", als Chauffeur, Anfang der fünfziger Jahre.

© privat

Nachruf auf Alexander von Salessoff (Geb. 1922): Fahren sie defensiv!

Sohn eines russischen Adligen aus St. Petersburg, Wehrmachtssoldat vor Leningrad, Chauffeur einer Kauffrau vom Ku'damm, strenger Fahrschullehrer. Nachruf auf ein Jahrhundertleben.

Von David Ensikat

Es heißt, er habe mal geboxt als Jugendlicher, und da wundert man sich schon. Ein Kämpfer war er nämlich nicht, eher einer, den das Leben hierhin verschlug und dorthin, mit großem Pech und großem Glück, er nahm es, wie es kam und wurde trotz allem und mit allem alt, sehr alt.

Da ist einmal der Adelstitel, der so wenig zu diesem Mann passte und so gut in das vergangene Jahrhundert. Sein Vater, ein höherer Beamter in Sankt Petersburg, hatte den Titel vom Zaren für treue Dienste verliehen bekommen. Das jedoch half weder dem Vater noch dem Zaren, 1917 kam die Revolution, tötete den Zar und trieb den geadelten Beamten ins Exil. Er ging nach Schweden und lernte dort die Frau kennen, die einmal seine und die Mutter Alexanders werden sollte, auch sie eine Emigrantin, Tochter einer deutschstämmigen Fabrikantenfamilie.

Die beiden zogen nach Berlin und fühlten sich bei ihrer Hochzeit in die just untergegangene Zeit zurückversetzt. Vor ihnen hatte in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Paar weit noblerer Herkunft geheiratet und hatte den überbordenden Blumenschmuck zurückgelassen. Da erschien es nur angemessen, dass auch die Salessoffs, obgleich lange nicht so wohlhabend, wenigstens ein „von“ im Familiennamen vorzuweisen hatten.

Drei Jahre später kam Alexander zur Welt, weitere fünf Jahre darauf starb sein Vater. Zurück blieb die Mutter mit zwei Söhnen, welche, als sich die politischen Verhältnisse derart wandelten, dass eine russische Herkunft problematisch wurde, sich entschloss, gemeinsam mit den Söhnen die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie wurde ihnen gewährt, den Adelstitel aber verloren die Salessoffs – logisch in einer Zeit, in der man sich allein durchs Deutschsein geadelt fühlen sollte.

„Aus Liebe und zum Andenken. Gilla.“

Der nunmehr deutsche Alexander erfüllte seine nationale Pflicht, wurde Hitlerjunge, absolvierte den Reichsarbeitsdienst, wurde in die Wehrmacht eingezogen und gelangte mit ihr in die alte Heimat seiner Eltern. Schließlich fand er sich vor den Toren jener Stadt wieder, in der sein Vater den Titel erhalten hatte, in der die Zaren regiert hatten, deren Name Alexander trug, und die umbenannt worden war zu Ehren jenes Revolutionärs, der seinen Vater aus dem Land getrieben hatte. Die Wehrmacht hatte Befehl, Leningrad auszuhungern, die Blockade währte länger als zwei Jahre. Alexander war es immerhin vergönnt, sich für ein paar Monate des Jahres 1943 so weit von dem Wahnsinn zu entfernen, wie das nur möglich war. Ihm war die Hand durchschossen worden, zur Genesung kam er nach Potsdam. Nach dem Krankenhausaufenthalt sollte er dort Kriegsgefangene beaufsichtigen. Dass er sich in dieser Zeit auch ganz anders zu beschäftigen wusste, davon zeugt das Foto einer schönen blonden Frau, deren Gruß sich auf der Rückseite findet: „Aus Liebe und zum Andenken. 1. 7. 43. Gilla.“

Das Foto ist zerknittert, Alexander wird es zum Trost in den folgenden Jahren bei sich getragen haben. Denn Trost hatte er nötig. Er kam wieder an die Ostfront, und mit der Ostfront ging es westwärts, bis Berlin, wo er in die russische Gefangenschaft geriet, um nun wieder Richtung Osten transportiert zu werden, zweitausend Kilometer weit, in den Bergbau.

Seine russische Vergangenheit erwies sich als Glück, man brauchte ihn als Dolmetscher, und so kam er von der Knochenarbeit weg. Als weiteres Glück stellte sich heraus, dass der Adelstitel bei der Deutschwerdung abhanden gekommen war. Denn hätten ihn die Russen als Abkömmling der früher herrschenden Kaste erkannt, hätte er, so nahm er an, kaum die Gefangenschaft überlebt.

Im März ’48 kam er frei und wieder nach Berlin. Seine Mutter und sein Bruder lebten in einer Wilmersdorfer Wohnung, wo auch er unterkam und außerdem ein Flüchtlingspaar sowie nach kurzer Zeit auch Waltraud. Er hatte sie beim Hamstern kennengelernt, die Sache mit Gilla lag fünf Jahre zurück, und der Hunger nach Liebe war mindestens so groß wie der nach Nahrung. So ging es Schlag auf Schlag, sein erster Brief begann mit „Liebes Fräulein Waltraud“, der zweite, einen Monat später, mit: „Mein liebes kleines Goldmädchen“. Einen Tag vor Weihnachten 1948, da war Waltraud bereits schwanger, heirateten die beiden.

Und wie schon von der Hochzeitsfeier der Eltern Alexanders nach dem Ersten Weltkrieg, war auch von dieser, die dem Zweiten Weltkrieg folgte, lange noch die Rede, wenn auch nicht wegen des Schmuckes, sondern wegen des Hasenkopfes. Weil die Kirche nicht beheizbar war, fand die Trauung in der Wohnung statt, es kamen 15 Gäste, die sich zum anschließenden Festmahl einen Hasenbraten teilten. Der Kopf des Tieres sollte aufgehoben werden fürs Weihnachtsfest, es waren schmale Zeiten. Entsprechend groß war die Bestürzung, als man feststellte, dass der Dackel einer Tante den Hasenkopf während der Trauungszeremonie aufgefressen hatte. Die Tante nämlich hatte gesungen und der Dackel so laut dazu gejault, dass man ihn ausgesperrt hatte, leider dorthin, wo der Kopf des Hasen lag.

Bereit fürs Wirtschaftswunder

1949 kam die erste Tochter, Barbara, zur Welt, 1950 die zweite, Inga. Und Alexander, den man sich auf keinen Fall als Draufgänger vorstellen darf, hatte mit seinen 28 Jahren einen Weltkrieg erlebt und drei Jahre Gefangenschaft, war Familienoberhaupt und bereit fürs Wirtschaftswunder. Für ihn begann es mit Frau Stassen. Frau Stassen war eine wohlhabende und lebenslustige Dame, die am Kurfürstendamm einen Geschenkeladen betrieb und Frauen liebte. Sie besaß einen schwarzen BMW, für den sie einen diskreten Chauffeur benötigte. So kam es, dass der stille und bescheidene Alexander die frühen Fünfziger am Steuer dieses teuren, großen Autos verbrachte, im Sommer durch Italien fuhr, auf der Rückbank die Frau Stassen und Gefährtinnen. Er schlief in denselben teuren Hotels wie die Chefin und schrieb täglich einen Brief an seine Waltraud.

Er mochte seine Arbeit, Frau Stassen und alle ihre Frauen mochten ihn, und alle weinten, auch er selbst, als er nach drei Jahren kündigte. Was blieb ihm übrig, es war Wirtschaftswunder, es musste aufwärtsgehen. Ein besseres Gehalt, gute Aussichten und reguläre Arbeitszeiten bot eine Fahrschule, und so kam es, dass der stille und bescheidene Alexander, der so gerne Auto fuhr, die Jahre bis ins Rentenalter vornehmlich auf dem Beifahrersitz verbrachte.

Zu Hause führte Waltraud die Geschäfte, sie wusste, was ihr Mann brauchte und was nicht. Umso klarer wies er im Fahrschulauto seine Schüler an. Es heißt, er sei ein strenger Lehrer gewesen, aber einer, dem man dafür dankte. Denn er gab seinen Schülern die Lektion weiter, die ihm das Leben erteilt hatte, und die eben dort wie auch im Straßenverkehr das Überleben sichert: Nimm es, wie es kommt; fahre mit, nicht vorneweg; der Defensive lebt länger und fährt besser. Kein Wunder, dass er noch im hohen Alter Dankesbriefe ehemaliger Fahrschüler erhielt, mit denen dieser alles andere als strenge Mann einst streng gewesen war.

Alexander von Salessoff (1922-2016)
Alexander von Salessoff (1922-2016)

© privat

Fast sein gesamtes Arbeitsleben lang lautete sein Name: Alexander Salessoff. Das „von“ hat er wieder eingefügt, als sein Bruder gestorben war. Ein mit den Erbschaftsangelegenheiten betrauter Bürokrat bestand darauf, dass einzig ein Alexander von Salessoff in die Erbfolge eintreten könne, da exakt dieser Name in der Geburtsurkunde vermerkt worden war und sonst ja jeder hätte kommen können. Ein lächerlicher Bürokratenakt, könnte man meinen, kaum mehr als eine Silbe zusätzlich im Namen, längst jedenfalls kein Titel mehr. Für Alexander war es dann doch etwas Besonderes. Ein Stück Geschichte, Erinnerung an etwas, das in ihm steckte. Stolz? Auch das. Der Stolz des glücklich Davongekommenen, der auf eine Herkunft verweisen konnte, die Großartiges verhieß, doch niemals einlöste. Die Welt, in der ein „von“ noch eine Rolle spielte, war lange untergegangen – und er ist dennoch froh und alt geworden. Das dennoch war entscheidend.

Niemand konnte sich vorstellen, dass Waltraud vor ihm sterben würde. Was sollte er allein denn tun, sie hatte sich um die Wohnung gekümmert, die Freunde, das Essen. Er war nur für das Auto zuständig, aber mit 90 sollte er nicht mehr ans Steuer. Erst sah es so aus, als würde er Waltraud schnell folgen. Dann waren es doch noch vier gute, zufriedene Jahre – beklagt hatte er sich sowieso noch nie. Sein geliebter Audi stand unten vor dem Altersheim. Wenn er vorbeikam, schaute er mit Liebe und Wehmut drauf. Als er das Haus nicht mehr verlassen konnte, verkaufte seine Tochter den Wagen. Gesagt hat sie’s ihm nicht. Und er fragte nicht danach.

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