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Bernadette Hatlapa (1953-2015): Die Frau im Vordergrund. Der ihr Zugewandte ist Ralf Sponholz, Einzelfallhelfer von der Berliner Stadtmission.

© Thomas Schubert

Nachruf auf Bernadette Hatlapa (Geb. 1953): Der Härtefall

Sie wusch sich nicht, war krank, war nicht bei Trost. Was ihr blieb: Das Nikotin und ihre Freiheit. Wie hilft man einer, die sich nicht helfen lassen will?

Von David Ensikat

War es vor vier Jahren oder vor fünf, als Bernadette auftauchte? Egal, es war Winter, und sie war blau vor Kälte. Gezittert hat sie sowieso, dazu musste es nicht kalt sein. Sie hatte diese Krankheit, die früher Veitstanz hieß und inzwischen Chorea Huntington. Sie zitterte unentwegt, machte Verrenkungen, schnitt Grimassen, sprach, wenn sie überhaupt mal sprach, so, dass man sie kaum verstand. Und war nicht ganz bei Trost.

Blau gefroren und jämmerlich tauchte sie am Bahnhof Zoo auf, an der hinteren Seite, Jebensstraße, wo jeder Tourist sofort weiß, dass er hier nicht hingehört, weil es stinkt und weil die Menschen statt Fotoapparaten Bierflaschen in den Händen halten. Unter den Bedürftigen hat es sich rumgesprochen, dass man bei der Bahnhofsmission eine Mahlzeit kriegt, auch wenn man sich seit Tagen nicht gewaschen hat. Dass es hier Helfer gibt, die sich vom Elend nicht abwenden, wenn es noch so abstoßend und bedauernswert daherkommt. Sie bieten „niedrigschwellige Angebote für Obdachlose und Stadtarme“, so nennt sich das in der Behördensprache. Bernadette, die stank und Kolonien von Parasiten beherbergte, baten sie herein.

Es ging ihr schlecht genug, dass sie der Einladung folgte. Und obwohl – nein: weil die Helfer von der Bahnhofsmission es nicht darauf anlegen, jemanden bei sich zu behalten, kam sie immer wieder. So wurde dieser Ort, dessen Schwellen niedrig sein mögen, der aber ganz und gar nichts Heimeliges hat und der als dauerhafte Unterkunft nie gedacht war, zu ihrem Zuhause.

Dabei hatte sie einen Platz in einem Pflegeheim. Es gab sogar jemanden, der sich um ihre amtlichen Dinge kümmerte, einen „gerichtlich bestellten Betreuer“. Dem aber misstraute sie, denn der hatte immer so bescheuerte Ideen: Sie sollte ihren Ausweis bei sich tragen. Gut, wenn sie den andauernd verlor, würde es auch eine Kopie tun. Außerdem noch eine Bescheinigung für die BVG, damit sie nicht ihre x-te Anzeige wegen Schwarzfahrens bekam. Sie verstand gar nicht, was das alles sollte. Dann las er sie irgendwo auf, verlaust, hungrig und krank, und schickte sie ins Krankenhaus, wo sie sie gleich dabehalten wollten. Nicht mit ihr! Um ihre Heimplätze hatte er sich gekümmert, aber da hielt sie es nie lange aus. Schlief dann doch wieder auf einer Parkbank oder auch darunter.

Bei der Bahnhofsmission wollte niemand was von ihr. Sie fragten, worauf sie Appetit hatte. Kuchen? Bitte, „Butter Lindner“ hat eine Palette Törtchen gespendet. Sie durfte auch hier schlafen, nicht nur eine Nacht. Ob sie sich nicht mal waschen wollte. Nein? Na gut, dann nicht.

Selbstverständlich haben sie sich erkundigt, haben mit dem Heim gesprochen: „Ah, Frau Hatlapa ist jetzt bei Ihnen. Na Gott sei Dank, besser als auf der Straße!“ Auch der Betreuer war froh zu erfahren, wo Bernadette nun wieder steckte.

Wie aber sollte es weitergehen? Eine Zwangseinweisung irgendwohin, wo sie nicht mehr weg konnte? So was kann man machen, wenn der Kranke eine Gefahr für sich oder für andere darstellt. Sie wusch sich nicht, war immer wieder fortgelaufen, hatte gefroren, war krank. Schließt man so jemanden weg, weil man vermeintlich besser weiß, was für ihn gut ist, als er selbst? Der Betreuer und die Helfer von der Mission fanden: Nein. Sie wussten nicht, was in ihr vorging. Sie ahnten nur, dass das Wichtigste, das ihr im Leben blieb – neben dem Nikotin – ihre Freiheit war.

Warum tut man das?

Sie haben drei fensterlose Kammern hinten in ihren Missionsräumen, eigentlich für gestrandete Bahnreisende. Eine davon öffneten sie für Bernadette. Wenn sie mal Zigaretten holte, gingen die Helfer in die Kammer und machten den Dreck weg – was für einen Dreck! Hauptsache, sie waren wieder raus, wenn Bernadette zurückkam. Sonst gab es Stress.

Kein Helfer durfte sie spüren lassen, dass er ihr half, das war entscheidend.

Sie hatte mal angedeutet, dass sie gern in den Zoo gehen würde. Ein paar Tage später sagte eine der Missionsfreiwilligen: „Bernadette, wollen wir heute in den Zoo? Bernadette nuschelte zurück: „Wenn du dahin willst, geh doch.“

Wenn jemand ihr ein Stück Kuchen brachte, auf das sie keine Lust hatte, dann pfefferte sie’s ihm vor die Füße und zog ihre Grimassen. Und saß im Flur der Mission, dort, wo sie alles im Blick hatte, rauchte eine nach der anderen, und man war froh, wenn der Zigarettenqualm ihre anderen Gerüche überdeckte.

Warum ließen sich die Bahnhofsmissionare darauf ein? Sie haben es täglich mit hunderten Kaputten und Verlorenen zu tun, geben ihnen zu essen und zu trinken, aber sie sind doch keine Pflegestation. Bernadette war die Kaputteste, Verlorenste. Einem Menschen, dem nicht zu helfen ist, zu helfen – das war der Beweis für die Machbarkeit des Unmachbaren. In der Stadt gibt es Tausende, die man retten müsste und nicht retten kann. Bernadette war der Härtefall, deshalb versuchten sie es mit ihr. Ein paar Jahre Leben in einer Art von Freiheit haben sie ihr geschenkt.

Und haben sich wahnsinnig gefreut, wenn über ihr koboldhaftes, verzogenes Gesicht mal ein Lächeln huschte.

Vor einem Jahr ging es nicht mehr. Sie konnte sich kaum noch auf Beinen halten und war auf die Gleise gestürzt. In Itzehoe gibt es ein Heim, das auf Menschen mit Bernadettes Krankheit spezialisiert ist. Endstation. Sie war schwach genug, es geschehen zu lassen. Und es war gut.

Sie starb im Mai in Itzehoe, nicht an der Nervenkrankheit, sondern am Lungenkrebs. Ein selbstbestimmter Tod.

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