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Nachruf auf Carola Krüger (Geb. 1956): "Das kann doch gar nicht sein"

Eine Depression? Unmöglich! Ihre Kinder sollten nicht mit einer kranken Mutter aufwachsen. Außerdem war doch alles ganz normal, es fehlte ihnen doch an nichts.

Im Hochzeitsfotoalbum sind die meisten Aufnahmen rotstichig. Und doch passen die Fotos zu Carola, mit ihrem kastanienbraunen dauergewellten Haar, den gütig und verletzlich blickenden Augen. In der Kirchengemeinde hatten sie sich kennen gelernt. Als Hans-Jürgen sie zum ersten Mal zum Essen einlud, ganz spontan, hatte sie eigentlich schon gegessen, wollte die Einladung aber auf keinen Fall ausschlagen. Was konnte sie tun?

Aus solchen Alltags-Zwickmühlen fand sie nur schwer einen Ausweg. Sie entschied, ihr Sattsein zu verbergen und noch mal zu essen. Damit vermied sie jedes Risiko zu scheitern, belächelt oder geneckt zu werden, was sie sich sehr gut ausmalen konnte. So hatte sie auch für die Schule gelernt. Auswendig pauken, Eselsbrücken bauen, damit nichts schiefgehen kann. Abitur zu machen traute sie sich trotzdem nicht.

Anschließend wollte sie Erzieherin werden. Eine Ausbildung bei der Sparkasse hatte sie auch probiert, aber beim Vorstellungsgespräch brachte sie kaum ein Wort heraus. Erzieherin passte eigentlich ganz gut. Sie hatte unerschöpfliche Geduld mit Kindern, konnte ihnen detailreich und anschaulich erklären, was Bienen so machen oder wie man auf einen Baum klettert.

Buletten voller Liebe

Entscheidungen, verbunden mit dem Risiko, die falschen zu treffen, ließen sie nachts oft lange wach liegen. In der ersten Kita klappte es nicht mit dem Anerkennungsjahr, in der zweiten lief es dann besser. Doch bald bekam sie selbst Kinder, blieb zu Hause und kehrte nicht mehr in die Kita zurück. Ihr Zuhause war eine Welt, die ihr vertraut war. Auch in der Kirchengemeinde fühlte sie sich geborgen.

Carola machte die Dinge in einem Tempo, das ihnen zukam. Sie fertigte Buletten mit den unsichtbaren Ingredienzen Liebe und Achtsamkeit, so dass es niemand schaffte, ihre Rezepte nachzuvollziehen. Es schmeckte einfach anders, wenn Carola das Hackfleisch gewürzt und geknetet hatte. Sie streute gleichmäßig die Gewürze ein, auch unterhalb der Knetgabel, zerteilte den Fleischbrei sorgsam in Kuchenstücke, die einzeln weitergeknetet wurden.

Weitere Stärken: Tischtennis spielte sie sehr gut. Und singen konnte sie zur Gitarre. Sie sang ihre Kinder in den Schlaf, so lange, wie es eben dauerte, bis sie schliefen. Schwimmen brachte sie ihren Kindern bei, Fahrradfahren mit allen Verkehrsregeln, Ausschneiden konnte sie perfekt, Haare schnitt sie auch regelmäßig, sogar in Stufen. Wenn die Kinder in ihren Zimmern die Wohnung von zwei Seiten beschallten, hängte sie im Flur die Wäsche auf oder las. Freunde mitbringen war auch kein Problem.

Später, als öfter mal dunkle Wolken ihr Bewusstsein verschatteten, wurde sie selbst zum Kind. Eines Tages fand ihre schon erwachsene Tochter ein Zweieurostück in einem Umkleideschrank im Schwimmbad. Carola streifte sofort durch die Schrankreihen, um auch eins zu finden. Umsonst. Zum Trost teilte die Tochter mit der Mutter, und Carola strahlte. Wasserrutschen fand sie auch ganz toll. Sie rutschte fünfmal hintereinander.

Weil Hans-Jürgen sie drängte, machte sie eine Therapie, gegen die Stimmungsschwankungen, aber das half nicht viel. Die Psychopharmaka, die ihr Vater schon genommen hatte, nahm sie auch, aber nur für drei Monate. Ihr Vater war Alkoholiker. Nicht wie er zu werden, sondern das Leben zu meistern, ihre Rolle darin zu spielen, ihrem Perfektionismus gerecht zu werden, war ihr größter Antrieb, ihr wichtigstes Ziel.

Bipolare Störung nannten es die Ärzte. Eine chronische Depression. Sie war krank und weigerte sich, es zu akzeptieren. Ihre Kinder sollten nicht mit einer kranken Mutter aufwachsen. Außerdem war doch alles ganz normal. Ihr Mann ging arbeiten, sie kümmerte sich um die Kinder, regelmäßig fuhren sie in den Urlaub, und es fehlte ihnen an nichts.

Fliederduft liebte sie und alle Fliederfarben

Sie sagte oft: „Das kann doch gar nicht sein“. Wenn jemand lange versucht hatte, ihr eine Erkenntnis nahezubringen, etwa, dass Vitamintabletten gar nichts bringen oder Naschen vor dem Fernseher zu Übergewicht führt, senkte sich das Einlasstor zu ihrem Innern. „Das kann doch gar nicht sein“, damit blieb alles Mühen vergebens, ihr Standpunkt unverrückt derselbe. Schutz gegen den nagenden Selbstzweifel. Jedes Infragestellen eingespielter Routinen brachte das Fundament ihrer Existenz ins Wanken.

Und es gab ja auch die hellen Tage, viele waren hell und zauberten ihr ein argloses Lächeln ins Gesicht. Besonders, wenn sie in den Urlaub fuhren, nach Franken zum Wandern und Radfahren, später an die Ostsee. Dann hörte die Gedankenspirale auf zu drehen, die Natur zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Lieblingsplätze hatte sie auch in Berlin, das Restaurantschiff Alte Liebe an der Havel, der Lietzensee, Domäne Dahlem, das Roseneck. Ausflüge machen mit Carokaffee und Keksen in der Tasche fürs Picknick. Fliederduft liebte sie und alle Fliederfarben.

Der Gedanke, ausziehen zu müssen, war ein Horror. Ihr Mann hatte nachgerechnet und festgestellt, dass es mit der Rente nicht ganz reichen würde. Umziehen? Ausgeschlossen. Das Thema wurde hin und her gewendet, immer wieder aufgegriffen und nie zum Abschluss gebracht.

In den letzten Tagen vor ihrem Abschied von der Welt tigerte sie durch die Wohnung, fand jeden Ruheort, am Fenster, am Tisch, im Sessel, nach wenigen Minuten unerträglich. Ruhe fand sie erst im Entschluss, ihr Leben zu beenden. Damit man die Familie benachrichtigen konnte, schrieb sie ihre Adresse auf einen kleinen Zettel. Auch was beim Frühstückmachen für die alte Dame zu beachten war, um die sie sich regelmäßig kümmerte. Und sie bat ihre Familie um Verzeihung.

Niemand sollte darunter leiden, dass sie weg ist. Alles sollte geregelt sein. Einfach verschwinden, ohne dass es auffällt. So hätte sie es sich gewünscht. Hans-Jürgen schreibt seitdem jeden Tag in sein Tagebuch der Trauer.

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