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Christian Radeke (1978 - 2014)

© privat

Nachruf auf Christian Radeke (Geb. 1978): Gott spielt mit mir

Nach Mexiko will er fliegen, wenn es so weit ist, sich besaufen, dann die Kugel geben. Nachruf auf einen, der vor seinem Tod noch schnell das Leben auskostet.

Von Julia Prosinger

Er hat das grüne Licht Gottes gesehen. Damals, bei seinem ersten LSD-Trip am Rostocker Strand. Erzählt Christian Radeke im Bierkeller eines Marzahner Studentenwohnheims. Er hat schon ein paar Dinge erlebt, er will noch mehr erleben.

Nachts spaziert er über parkende Autos und Hausdächer. Morgens auf dem Weg zur Uni dreht er um, driftet durch Brandenburg, mit ein paar Bier am Steuer. Einmal macht er sich mitten im Seminar eine Dose auf. Christian trägt keine Funktionsjacken wie viele der anderen Geografiestudenten. Er folgt keinem Plan wie viele der anderen Lehramtsstudenten.

Wer ihn näher kennt, erfährt, dass er Mukoviszidose hat, eine unheilbare Stoffwechselkrankheit. 18 Jahre könnte er werden, älter kaum, so hatten es ihm die Ärzte angekündigt. Jedes Jahr will Christian mit mehr Erfahrung füllen.

Arbeiten kann er nicht, Kinder zeugen auch nicht. Sein Vater ist Seemann, seine Mutter Hausfrau. Sein Zuhause in einem Rostocker Neubaugebiet ist ihm zu klein. Nach dem Abitur zieht er sofort nach Berlin.

Man kann es sich auch anders heimisch machen, als er das bisher kennengelernt hat. Indem man sich auskennt zum Beispiel, besser als andere. Christian lernt Altgriechisch, Latein, Italienisch, Französisch. Wer keine Philosophie studiert hat, die Mutter aller Wissenschaften, sagt er, der kann nicht gebildet sein.

Indem man sich gute Freunde sucht. Er hat drei beste. Henning, Oliver, Claudia. Drei Freunde, drei Welten. Sie müssen sich nicht untereinander verstehen. Wenn das Atmen schwerer fällt, wird Christian launisch. Mit Claudia ist es irgendwann vorbei.

1999 fährt er mit Henning nach San Francisco. Nicht ganz, was sie sich vorgestellt haben, kommerzialisiertes Flower Power. Sie reisen weiter nach Mexiko, schlafen unterm Sternenhimmel neben Indianern, kaufen Stoff bei einem alten Bahnwärter, ziehen Kokain in der Chihuahua-Wüste.

Christian liest unablässig. Hunter S. Thompson, Bukowski, Henry Miller, Dostojewski. Er schreibt Gedichte, Kurzgeschichten und einen autobiografischen Roman über die Zeit in Mexiko: „Ich brach mein Studium ab, gab meine Wohnung auf, verließ mein Mädchen und nahm die nächste Maschine“, steht da als Vorwort. Die Verlage fordern eine Risikobeteiligung von 10 000 Euro. Christian lebt von Hartz IV und dem Taschengeld der Eltern, das Buch erscheint nie.

Die Deppennummer klappt immer

Christian und Henning tanzen zu „My Generation“ von The Who, Christian schmeißt eine Bierflasche aus dem Fenster, zerlegt seine Wohnung zu den Rolling Stones, „Satisfaction“, „Sympathy for the Devil“, „Jumpin’ Jack Flash“. Er komponiert auf der E-Gitarre, träumt sich als Rockstar. Immer wieder verschwindet er ins Krankenhaus, die Mukoviszidose greift nach und nach alle Organe an. Die Lunge, die Niere, zum Schluss das Herz.

Mit Oliver flieht Christian aus den Vorlesungen zur „Klimatologie“, ins Café Cinema am Hackeschen Markt. Da rauchen alle, auch Christian, trotz Lungenschleims. Sie schweigen viel. Sie reden über Frauen. Claudia Cardinale sah gut aus. Manchmal spuckt Christian Blut ins Taschentuch. Dann ziehen sie weiter. Christian fordert Unbekannte zum Faustkampf auf. „Ich war schräg drauf“, sagt er später. Cortison kann aggressiv machen.

Sie singen Roland Kaiser und Modern Talking – freuen sich, dass Fremde wirklich glauben, sie seien Schlagerfans. Und was die Leute alles preisgeben, wenn man sich dumm stellt! Die Deppennummer klappt immer: Oliver mimt den Proll, Christian, rote Haare, Scheitel, Sommersprossen, Pullunder, den perfekten Schwiegersohn. Er hätte lieber verwegener ausgesehen. Wie die Helden aus dem Kino, de Niro, di Caprio, Ventura. Christian und Oliver reden in Filmzitaten, geben den Menschen um sie herum Namen. Im Reinickendorfer Einkaufszentrum entdecken sie einen Nicholas Cage. Den observieren sie ein paar Tage. Wer Geburtstag hat, beschenkt den anderen.

In den letzten Jahren treffen sich Christian und Oliver bei Starbucks an der Friedrichstraße, „Basislager“. Da kommt Christian vom Wannsee aus mit der S-Bahn schnell hin. Mit dem Sauerstoffgerät kann er nicht weit gehen. Bei Regen atmet er am schwersten. In den letzten Jahren, Henning hat längst Familie, ist Lehrer, schlemmen sie Austern und Wachteln zusammen. Orgien wie in „Das große Fressen“. Christian malt Aquarelle, schlägt Skulpturen aus Marmor und Alabaster. Er promoviert über das Bild der Antike in der Renaissance am Beispiel von Reliefs. Er kommt langsam voran. Wird nie fertig. Seinem Gehirn fehlt der Sauerstoff.

Christian Radeke (1978 - 2014)
Christian Radeke (1978 - 2014)

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Vergangenheit ist schöner als Gegenwart. Christian liest keine Zeitung. Die Medien, glaubt er, lenken die Masse. Andere, sagt Christian, beschäftigen sich nicht wirklich mit dem Leben. Funktionieren nur. Er aber kennt den Tod. Sieht Gesündere auf der Mukoviszidose-Station sterben. „Gott spielt mit mir“, sagt er, „damit er gut unterhalten wird.“ Er will die Belohnung schon auf Erden.

„Entweder du erschießt dich oder du lässt dich taufen“, sagt er auch. Zurück nach Mexiko will er fliegen, wenn es mal so weit ist, sich besaufen, dann die Kugel geben. Am Abend vor seinem Tod lässt sich Christian im Krankenhaus taufen.

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