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Eugen Gint (1981 - 2014)

© privat

Nachruf auf Eugen Gint (Geb. 1981): Nichts wollen, nichts werden

Bunter Hund, armer Mensch, cooler Typ, Abschaum. Jeder denkt sich seins über den Punk, der an der Straßenecke schnorrt. Der Nachruf auf einen, der älter wurde, als er dachte.

Von David Ensikat

"Eugen" steht groß und weiß auf seinem Lederjackenärmel, denn das ist der Eugen für uns alle, ein öffentlicher Mensch, den jeder duzt. Abgerissen steht er an der Ecke Schönhauser Allee, Danziger Straße mit einem Becher in der Hand, in dem ein paar Centstücke liegen. Die einen starren ihn an, die anderen blicken angestrengt in eine andere Richtung, aber jeder denkt sich seins.

„Abschaum“, denken jene, die am wenigsten nachdenken (oder die Angst haben um ihr kleines bisschen Glück, das sie beschützen müssen vor jenen, die noch weniger davon haben).

„Wie bunt dieser Prenzlauer Berg noch immer ist“, denken die Romantiker und sehen in dem Punk ein Bollwerk gegen die Gentrifizierung.

„Ein armer Mensch, man muss ihm helfen“, denken die Empfindsamen und mögen damit recht haben – so lange sie ihm einen Euro in den Becher werfen. Wer ihn retten will aus seinem Sumpf, hinüberziehen in die Welt der Trockenen, Behausten, der wird scheitern.

„Ein cooler Typ, der macht, was ihm gefällt. Zeigt dem sklavenhaften Rest den Stinkefinger.“ Das denken ein paar Nonkonforme. Da ist was Wahres dran; man muss nur freundlich übersehen, dass zum Stinkefinger die Betäubung gehört. Eugens Blick ist glasig, Eugen wankt.

Das bisschen Rebellentum, das legt sich wieder

Er kommt aus Kasachstan, in Karaganda ist er aufgewachsen, einer Großstadt in der Steppe. Ihr Wahrzeichen: der „Palast der Kultur der Bergarbeiter“. Von seinem Portal herab grüßen in Stein gehauene Helden des Sozialismus. Als Eugen in die Schule kommt, Ende der Achtziger, rumpelt der Sozialismus nur noch müde vor sich hin, aber dass aus diesem jungen Schüler ein werktätiger Held werden würde, ist sowieso ganz ausgeschlossen. Eugen fehlt jedes Gespür für die Anforderungen, die die Welt an ihn richtet. Schon in der ersten Klasse schwänzt er die Schule. Er besucht lieber Inga, seine Schwester, im Kindergarten und teilt mit ihr ein Eis.

Warum er so anders ist als die anderen? An den Eltern kann es kaum liegen. Sie versuchen es mit Verständnis, sie versuchen es mit Strenge, ganz egal. Wenn Eugen etwas muss, dann tut er’s nicht. Als die Eltern Stubenarrest verhängen, steigt er aus dem Fenster und fährt hundert Kilometer mit dem Bus zu einem See, um dort zu angeln. Am Abend kehrt er heim und versteht gar nicht die Aufregung. Seine Mutter geht mit ihm zum Psychologen. Der findet den Jungen ganz normal. Das bisschen Rebellentum, das legt sich wieder.

Was Eugen lernen will, das lernt er leicht und schnell. Englisch zum Beispiel, später Deutsch. Er spielt Gitarre und Schlagzeug. Die Eltern schenken ihm eine E-Gitarre, und er verschenkt sie weiter. Mag sein, dass sie teuer war, Eugen hat sich auch sehr darüber gefreut. Aber ist es nicht noch schöner, jemand anderem eine Freude zu machen? Die Dinge und ihr angeblicher Wert – was bedeutet das schon? Man nimmt sich, was man braucht, man verschenkt, was andere brauchen, so sieht Eugen das.

Die erste Nacht draußen, in einem Rohr

Er ist 18, als die Familie nach Deutschland zieht. Sie haben deutsche Wurzeln, die Urgroßmutter kam aus Hamburg. Während Inga um ihr Abitur kämpft, sitzt Eugen zu Hause, liest und liest. Lexika von vorn bis hinten, Philosophisches, Nietzsche. Das macht es ihm nicht leichter, die Erwartungen der anderen zu akzeptieren.

Er trifft sich mit Jugendlichen, die aus Russland kommen, aber mit denen kann er nicht viel anfangen. Sie haben so präzise Vorstellungen, was man anzustellen hat in dieser Welt. Da sind sie auch nicht anders als die Eltern. Die fragen: Was tust du nur mit deinem Leben? Er fragt zurück: Was tut ihr mit eurem? Sie sagen: Du verschwendest deine Zeit. Er sagt: Ihr arbeitet wie die Ameisen! Wofür? Er sieht, wie sie kämpfen, wie schwer es ist, sich anzupassen, all die Kompromisse, die Verbiegungen.

Als er zum ersten Mal eine Nacht draußen verbracht hat, allein, erzählt er davon seiner Schwester. In einem großen Rohr habe er geschlafen, einfach so. Inga denkt: Mein Gott, wie schrecklich! Für Eugen ist es ein Triumph, ein Augenblick der Freiheit. Ich will schlafen, also lege ich mich hin.

Eugen Gint (1981 - 2014)
Eugen Gint (1981 - 2014)

© privat

Immer mehr Nächte bleibt er fort, mal schläft er unterm Sternenhimmel, mal bei einem seiner neuen Freunde. Das sind welche, die längst aus dem Hamsterrad des Wollens und Werdens ausgestiegen sind. Sie erwarten nichts von ihm, sie machen keine Vorschläge, sie sagen einfach: Prost! Sie stehen auf der Straße mit der Bierflasche in der Hand und sehen, wie der Rest an ihnen vorbeirast, zielgerichtet, aber mit welchem Ziel denn eigentlich?

Eugen wird einer von ihnen. Er zieht sich eine Lederjacke an, krempelt die Jeans hoch, trägt die Haare wirr, manchmal an den Seiten abrasiert. Punk war mal eine Einstellung, dann wurde er zur Mode, inzwischen ist er wieder eine Einstellung. No Future: Eugen meint das ernst. Dass er 30 werden würde, konnte er sich sowieso nie vorstellen.

Wenn ich mich jetzt zudröhne, brummt mir morgen der Schädel – Menschen mit Schlafzimmern, Radioweckern und Lebensplänen denken so. Wenn man nichts weiter vorhat, kann man den dröhnenden Schädel mit noch mehr Suff bekämpfen.

Was Eugen vorhat? Als Rosemarie, die Sozialarbeiterin, ihn das mal fragt, fällt ihm nichts ein. Sie fragt noch mal, und Eugen flachst: den Mauerpark retten. Was er damit meint, kann er auch nicht sagen. Am nächsten Tag kommt er bei Rosemarie vorbei, die ihm so oft geholfen hat, und sagt, ihm sei was eingefallen: Sozialarbeiter will er werden. Das mag er ernst meinen, in dem Moment. Dann stößt er mit den Kumpels auf irgendetwas an, aber ganz bestimmt nicht auf die Zukunft. Hau weg den Scheiß!

Applaus für Eugen

Der Mauerpark zwischen Prenzlauer Berg und Wedding. Eugen ist oft hier, auch sonntags, wenn im großen Amphitheater Karaoke gesungen wird. Hin und wieder greift er selbst zum Mikrofon, und wenn er nicht total besoffen ist, dann singt er gut. Von einem seiner übleren Auftritte, November 2009, gibt es mehrere Videoaufnahmen auf Youtube, Suchbegriffe: Punk und Mauerpark. Wankend grölt Eugen „Yesterday“ zur Violinenmusik vom Band. „Suddenly / I’m not half the man I used to be. / There’s a shadow hanging over me / Oh, yesterday came suddenly.“

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Der Applaus danach ist frenetisch, aber warum? Weil die Leute froh sind, dass das gruselige Schauspiel vorbei ist? Weil sie Eugen Mut machen wollen? Junge, du kannst doch was. Mach was aus dir. Oder weil sie ihre eigene Angst vor Abstieg und Kontrollverlust wegklatschen wollen? Einer aus dem Publikum meint es gut mit Eugen und reicht ihm ein Bier. Unser Eugen. Begafft, beklatscht, gefüttert.

Unter den Menschen auf der Straße mit den Flaschen in der Hand gibt es jede Menge Verlorene, Hilflose, Einsame. Eugen ist keiner von denen. Ihm ist nichts Schlimmes zugestoßen, er hat Freunde und Familie. Bei seinen Eltern ist er willkommen, so lange er nur nüchtern ist. Was immer seltener vorkommt. Es gibt Frauen, die ihn retten wollen. Er ist groß und stark und freundlich, hat schöne blaue Augen. Sein Lächeln ist auch dann unwiderstehlich, wenn ein Auge zugeschwollen ist, weil ihm ein anderer Suffkopp draufgeschlagen hat.

Aber bei keiner hält er es lange aus, ohne Alkohol schon gar nicht. Wie soll man einem helfen, der sich nicht helfen lassen will?

Nach ein paar Jahren auf der Straße hat er die Nase voll davon. Inga organisiert ihm eine Wohnung, macht die Einkäufe. Nach einer Woche ist er weg. Was soll er drinnen rumhocken? Draußen ist das Leben.

Rosemarie, die Sozialarbeiterin, macht ein Foto von ihm, als er nach einem epileptischen Anfall am Boden liegt. Erbärmlich sieht er aus, kaputt und hässlich. Guck dir das an, sagt sie, du brauchst Hilfe.

Eugen zuckt die Schultern. Er hat keine Angst, vor nichts. Außer vorm Krankenhaus, davor, eingesperrt zu sein.

Der Baum im Mauerpark, den Eugen mochte. Hier feierten seine Freunde den Abschied von ihm.
Der Baum im Mauerpark, den Eugen mochte. Hier feierten seine Freunde den Abschied von ihm.

© D.Ensikat

Gleich um die Ecke vom Mauerpark ist die Kastanienallee mit den Cafés, den Szeneboutiquen und den gut angezogenen, zielstrebigen Menschen. Hier findet Eugen in der Nacht zum 31. Juli sein Ende. Jemand hat ihm eine Flasche Absinth geschenkt, 0,7 Liter, mehr als die Hälfte davon reiner Alkohol. Am Morgen liegt Eugen vorm Eingang zum Pratergarten. Eine Passantin ruft den Notarzt, der stellt den Tod fest, ruft die Polizei. Die Polizei sperrt den Gehweg ab und lässt den Leichnam fortschaffen.

Dann entfernen sie die Absperrbänder. Der Weg ist wieder frei für die Gutangezogenen, Zielstrebigen.

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