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Eva-Maria Scharlippe (1937-2015). Hier in den Achtzigern.

© Ulrich Horb

Nachruf auf Eva-Maria Scharlippe (Geb. 1937): "Logisch, dass die’n Stein nehmen!"

„Chaoten-Oma“ wurde sie genannt, was ein bisschen wie „Ulknudel“ klingt, arglos und folkloristisch. Dabei meinte sie es ernst, bitterernst. Der Nachruf auf eine Kreuzbergerin.

Alles so schön bunt hier: Die Röcke der Mädchen, die Luftballons, die Scheinwerfer auf den Bühnen, die Stände vor den Kneipen, der Müll auf den Wiesen. Und so friedlich. Die paar Steine und Flaschen in der Luft gehören zur Folklore. Die Leute laufen rum und tanzen und essen. „Keine Revolution auf nüchternen Magen“ steht an einem Imbiss. Das Konzept der Berliner Polizei nennt sich „AHA“: Aufmerksamkeit, Hilfe, Appell, die Anti-Konflikt-Teams entspannen aufkeimende Konfrontationen. Der 1. Mai 2015 in Kreuzberg.

Einigen geht das friedlich-unpolitische Gewimmel auf die Nerven, mit einem Laserstrahler projizieren sie „Willkommen am Ballermann“ an eine Häuserwand in der Adalbertstraße.

Über die Adalbertstraße am Kottbusser Tor spannt sich das NKZ, das Neue Kreuzberger Zentrum, ein zwölfgeschossiges, halbkreisförmiges Hochhaus. Vom sechsten Stockwerk aus hat man alles im Blick, den Platz um den U-Bahnhof, die Skalitzer Straße und die Dresdener. Als die Zeiten noch wilder waren, politisch aufgeheizter, in den Achtzigern und Neunzigern konnte man von hier die schwarz angezogenen Jungs und Mädchen sehen, die Polizisten, die Wasserwerfer und Räumfahrzeuge. Eva-Maria Scharlippe, die seit 1974 im NKZ wohnte, hatte den idealen Beobachtungsposten.

Aber sie stand eben nicht nur hinter ihrer Gardine. Sie ging runter zu den sogenannten Chaoten. Sie lief mit ihnen, ganz vorn, obwohl sie weder jung war noch dunkle Kapuzenpullis trug. Sie wollte sich selbst ein Bild machen. Sah Polizisten auf Demonstranten einschlagen, Demonstranten mit Steinen nach Polizisten werfen. Sie sprach mit beiden Seiten. Sie war das Anti-Konflikt-Team damals.

„Chaoten-Oma“ nannten sie manche Leute, was ein bisschen wie „Ulknudel“ klingt, arglos und folkloristisch. Dabei meinte sie es ernst, bitterernst. Zur Hochzeit der Hausbesetzer, als in Berlin die Häuser leer standen und durch das Flächensanierungsprogramm des Senats trotzdem Wohnraummangel herrschte, stellte sie sich auf die Seite der jungen Leute. Die wollten irgendwo leben, zu bezahlbaren Preisen. Sie renovierten Zimmer, richteten sich ein. „Wenn dann die Abrissbirne kommt und dit kaputt macht, logisch, dass die’n Stein nehmen, da hab ick Verständnis dafür, na logisch“, erklärte sie 2012 in einem Interview.

Und erinnerte sich noch gut an den 22. September 1981. An diesem Tag eskalierte die Situation. Heinrich Lummer, Innensenator, hatte im zuvor geräumten Haus Bülowstraße 89 nach der Räumung von insgesamt acht Häusern eine Pressekonferenz gegeben. Vor dem Haus versammelten sich Protestler, auch der achtzehn-jährige Klaus-Jürgen Rattay und Eva, die den Frierenden Tee und Kaffee brachte.

Lummer ließ sie von der Polizei bis in die Potsdamer Straße abdrängen, wo Rattay von einem Bus erfasst wurde. „Lummer hat gesagt“, erinnerte sich Eva, „der Rattay wollte auf die Stoßstange vom Bus springen, während der Fahrt. Hamse mal geguckt, so breit is’ die.“ Sie bildete eine schmale Lücke zwischen beiden Zeigefingern. „Is’ doch ’ne Idiotie.“ Wie es tatsächlich zu dem Unfall kam, ließ sich nie rekonstruieren. Sicher aber war, dass Rattay den Bus nicht angegriffen hatte, wie zunächst behauptet wurde. „Der Lummer. Dit war’n kleiner Möchtegern“, sagte sie.

Dass der nicht zu ihren Helden zählte, lag auf der Hand, er war Mitglied der CDU, Eva der SPD. Dabei kam sie nicht aus einer Familie, in der man zwangsläufig links stand, weil schon Vater und Großvater für die Rechte der kleinen Leute gekämpft haben. Sie hatte vier Kinder zur Welt gebracht, die drei Großen waren aus dem Haus, nur noch der Kleine lebte bei ihr. „Und da hab ick mir jesacht, oh Gott, Mutter, wat machste nu’ mit deiner Zeit?“ Sie trat in die SPD ein, saß 14 Jahre in der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung und nahm sich vor allem der Jugendlichen an, deren Zukunft nicht so prächtig aussah: „Ick komm mit denen klar!“

„Weil ick ein Kind von einem Russen war"

Sie wusste, wie es sich anfühlt, eher schwankend durch Kindheit und Jugend zu gehen. „Meine Mutter war ein Wandervogel.“ Mit ihr und ihrer Schwester zog sie „mit allen möglichen Fahrzeugen“ von Ostpreußen nach Berlin und weiter nach Potsdam. Einige Stunden nach ihrer Ankunft am 14. April 1945 begann die Bombardierung. „Meine Mutter hatte die Faxen dicke.“ Mit einem Bus fuhren sie weiter Richtung Schleswig-Holstein, bis in irgendein Dorf. Durch das Dorf liefen Männer mit gestreiften Anzügen. Eva, acht Jahre, wusste nichts, sah nur, dass die Männer ausgehungert waren. Sie gab einem ihren Speck, einem anderen Brot. Von hinten näherte sich ein deutscher Soldat und zielte mit dem Gewehr auf sie, ein zweiter schrie: Mensch, du kannst doch nicht eine Deutsche erschießen. „Dit war damals Deutschland. Jawoll.“

Dieses Deutschland würde sie immer abstoßen, auch nach 1945, dieses Deutschland, das mit dem Wort Moral herumfuchtelt und dahinter seine kleingeistige Gesinnung versteckt. Zweifellos waren die Zustände am Kottbusser Tor und im NKZ beunruhigend für Passanten und Anwohner: Junkies und Dealer überall, Spritzen in den Hausaufgängen, es stank. In Evas Augen waren diese Leute kein Müll, den man wegschafft, damit ihn keiner mehr sieht. Sie wusste, dass das Drogenproblem nicht zu lösen war, dass die Situation für beide Seiten aber erträglicher gemacht werden konnte. Es gab Möglichkeiten. Ein Anwalt in Frankfurt hatte herausgefunden, dass Druckräume nicht zu verbieten waren. Die Unterlagen dieses Anwaltes ließ sie sich zuschicken als Grundlage für ihr Anliegen. Von der CDU-Regierung hätte sie nie Unterstützung bekommen: „Niemals, das weiß ich.“ Außerdem hatte sie von dem Drogenbus in Hamburg erfahren: „Hab ick nach Hamburg geschrieben. Sagt mal, könnt ihr uns den mal zum Zeigen nach Berlin schicken. Habense jemacht.“ 22 Jahre kämpfte Eva für Druckräume, 2004 wurde der erste in der Dresdener Straße eröffnet. „Dann hab ick dafür, ohne dass ick’s wusste, als mir der Brief aus der Hand gefallen is’, ’n Bundesverdienstkreuz bekommen.“

Ihre Mutter hatte sie in ein Heim gegeben, ein katholisches, geführt von Nonnen. Warum? „Weil ick ein Kind von einem Russen war, ein One-Night-Stand, würde man heute sagen.“ Der Vater ihrer Geschwister dagegen war etwas Besseres, ein Zahnarzt. Amerikanische Soldaten brachten den Heimkindern jedes Jahr zu Weihnachten Kakao und Kuchen und Bunte Teller. Die Amerikaner waren noch nicht ganz draußen, da hatten die Nonnen alle Süßigkeiten eingesammelt. In der Nacht, aus einer abgetrennten Ecke des Schlafsaals, in dem eine der Schwestern ihr Bett hatte, hörten die Mädchen ein Rascheln. Eva reckte sich und sah, wie die Nonne eine Süßigkeit nach der anderen auswickelte und sich in den Mund schob. Im folgenden Jahr kamen die Amerikaner wieder. Die Kinder aßen alles sofort auf. „Uns ging’s hinterher sauschlecht, aber denen haben wir’s nich’ jegönnt.“

Der Standesdünkel von Evas Mutter führte dazu, dass sie keinen Beruf lernte: „Nüscht war ihr gut genug.“ Sie arbeitete in einer Fabrik als Strickerin und heiratete. Die Ehe verlief so leidlich. Sie sagte sich: „Verdammt noch mal, du willst’n Menschen lieben. Weil ich Liebe gesucht habe.“ Und bekam ihren ersten Sohn, Michael. „Michael wär heute 54.“ 2002 hat er sich das Leben genommen. Eva lag damals im Krankenhaus, das erste Bein wurde ihr wegen ihrer Diabeteserkrankung abgenommen. Um ihren ältesten Sohn hat sie bis zuletzt getrauert. Was nicht heißt, dass sie die anderen drei, Thomas, Katja und Marcus, nicht ebenso geliebt hätte: „Wenn ick über meine Kinder wat Schlechtes sagen würde, müsste ick Dresche bekommen.“

2009 wurde ihr das zweite Bein abgenommen. Trotzdem hockte sie nicht trübselig herum, sondern kroch, wenn es sein musste, durch die Wohnung. Aber irgendwann konnte sie doch nicht mehr allein leben und entschied sich – niemand drängte sie – in eine Hausgemeinschaft für ältere Leute zu ziehen. Sie strickte jetzt Mützen und Lätzchen für ihre Enkel oder für die Kinder von SPD-Müttern und blieb ein wacher politischer Mensch. Der 1. Mai war Pflicht, wenn auch im Rollstuhl und nicht mehr in der ersten Reihe.

Wie hätte ihr das große, bunte Fest in diesem Jahr gefallen? Wäre es ihr zu freundlich, zu harmlos gewesen, bei allen Problemen, die es doch gibt? Oder hätte ihr die friedliche Stimmung gefallen? Vier Wochen davor ist Eva gestorben.

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