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Hans-Joachim Bartels (1946-2016)

© privat

Nachruf auf Hans-Joachim Wilhelm Bartels (Geb. 1946): Hans im Doppelglück

In Schweden wurde er reich, doch zog es ihn zurück. Dass er immer öfter nach Berlin kam, entsprang nicht der Laune eines Exzentrikers. Es war seelische Notwehr. Nachruf auf einen späten Flaneur.

Europas größte Wanderdüne wurde vor mehr als 10 000 Jahren aufgeweht. Mit bis zu 60 Meter Gipfelhöhe bildet sie eine der mächtigsten Erhebungen Berlins. Das ist seine Heimaterde, nein, sein Heimatsand, er hat die Heiligenseer Düne gezeichnet und seine ganze Kindheit dazu, auf einem großen Bild. Man kann es lesen wie ein Buch.

Über der Düne ist ein Streifen Blau zu sehen, himmelsblau oder zukunftsblau, vor allem havelblau, und in diesem Blau schwimmt ein großes weißes Schiff. Das ist das Schiff, das Hans-Joachim Bartels als Junge bei der großen Heiligenseer Tombola gewonnen hat.

Er hatte das weiße Schiff schon vorher gesehen, sein Los zeigte einen Hauptgewinn, er durfte sich aussuchen, was er wollte. Das Schiff, was sonst! Aber die Augen seiner Eltern fixierten den größten, verheißungsvoll gefüllten Präsentkorb.

Der Junge erfuhr, dass dies die fünfziger Jahre seien, wahrlich keine Zeit des Überflusses und dass die meisten Menschen alles geben würden für einen solchen Präsentkorb. Ein weißes Schiff dagegen: Humbug. Wenn er größer sei, werde er das einsehen. Und Hans trotzte den Tränen und nahm den Korb. Zum Trost durfte er noch ein Los ziehen, ein Weißes- Schiff-adé-Los, aber auf dem kleinen Zettel, den er auswickelte, stand: noch ein Hauptgewinn! Spätestens jetzt verstanden alle, dass es schon etwas Besonderes war mit ihm. Er verstand das auch, mit dem großen weißen Schiff unterm Arm. War er nicht ein Hans im Doppelglück?

Wollte der weiße Dampfer ihn gar auf sein Leben vorbereiten? Wenig später ging er mit seiner Mutter in der Tat an Bord eines solchen Schiffes. Er erfuhr, dass er jetzt ein Schwede werden würde, denn dort oben, in Schweden sei er ab jetzt zu Hause. Hans-Joachim glaubte das eigentlich nicht, er war ein Berliner, näherhin ein Heiligenseer, und all seine Freunde waren auch Berliner, näherhin Heiligenseer, vor allem Lothar.

Hans’ Mutter hatte einst einen Bremer geheiratet, seinen Vater, aber es war der falsche Bremer, darum kehrte sie zurück zu ihren Eltern nach Berlin und Hans wurde ein Heiligenseer. Aber dann heiratete sie noch einen Bremer, und der war Ingenieur für Schiffsbau in Malmö. Er sorgte dafür, dass die weißen Dampfer nicht untergehen.

Ein echter Dürer oder ein echter Bartels?

Malmö? Nicht dass der Junge die Stadt nicht mochte. Er mochte auch bald die Schweden. Und er liebte den schwedischen Maler, der sein großes Zeichentalent förderte und bemerkte, dass sein Schüler Albrecht Dürers unendlich filigrane Zeichnungen so kopieren konnte, dass es nachher schwerfiel zu entscheiden, ob das nun ein echter Dürer oder ein echter Bartels war. Alter Schwede!

Aber als sich die Frage stellte, wo Talent am besten zu formen war, fiel ihm ein einziger Ort ein: Berlin. Er schickte der West-Berliner „Akademie für Graphik, Druck und Werbung“ eine Mappe mit echten Dürer-Bartels-Arbeiten und wurde umgehend genommen.

Der Junggrafiker wohnte gemeinsam mit einem frisch entlassenen Schaufensterdekorateur, dessen Chef seine Tat mit „Unfähigkeit, Streitsucht und Musizieren während der Arbeitszeit“ begründet hatte. Wahrscheinlich hatte er recht. Hannes Wader übte viel Gitarre, zwang Bartels, den ganzen Tag wahlweise ihn oder Georges Brassens zu hören und arrangierte statt Schuhen Noten: Sein erstes Lied hieß „Das Loch unterm Dach“. Wader sollte bald durch die schönste gesungene Definition des Sozialismus auffallen: „Leben einzeln und frei / wie ein Baum und dabei / brüderlich wie ein Wald/ diese Sehnsucht ist alt.“

Natürlich stimmt an dem Lied etwas nicht. Die im Wald brüderlich lebenden Bäume bekommen nur das Licht von oben, weiter unten sind sie desillusionierend kahl, während die einzeln und frei stehenden Bäume überall Blätter haben. Egal wie, Wader brach sein Grafik-Studium ab, für die manipulativen Suggestionen der bürgerlichen Werbung gab er sein Talent nicht her. Hans-Joachim Bartels aber hatte damit kein Problem: solange es nur seine eigenen Suggestionen waren. Außerdem war in Schweden die Vision Waders gewissermaßen Staatsphilosophie.

Der Wiedergänger Albrecht Dürers fand sofort Arbeit bei der schwedischen Werbeagentur Norgren und wurde das, was man heute Artdirektor nennt. Als sein Chef starb, sollte die Firma in die Hände der vier besten Mitarbeiter gelangen, Bartels war einer von ihnen. „Leben einzeln und frei … “ Warum sollte man nicht genauso existieren und zugleich als Vier-Baum-Wald eine große Agentur leiten können? Er war Hans im Doppelglück, er hatte die Pflicht, es zu probieren. Und war es nicht auch Zeit zu heiraten? Zwei gleich hohe Stämme, die gleich viel Licht bekamen und überall Blätter hatten, warum sollte nicht auch das möglich sein? Beide würden viel Raum lassen für die kleinen, die nachwachsenden. Das Paar bekam drei Söhne, und die Jahre machten, was sie am liebsten tun: sie vergingen so schnell, dass bald keiner mehr mitkam.

Ein reicher Vater? Peinlich!

Bartels Kinder hörten in der Schule, dass ihr Vater einer der hundert bestverdienenden Männer Schwedens sei, wahrscheinlich nur der hundertste, aber immerhin, es war ihnen sehr peinlich.

Der schwedische Staat glaubte, dass er seinen Bürgern täglich mit gut gemeinten Ermahnungen zur Seite stehen sollte. So lasen die Schweden schon frühmorgens auf ihren Milchtüten, dass sie die Natur schützen sollten. Milchtüten-Design: Norgren, Bartels. Und weil es so viel mehr zu tun gab und damit die Schweden nicht träge wurden, überraschte die Milchtüte bald mit einer neuen Losung im neuen Design. Und irgendwann stand Hans-Joachim Bartels allein an der Spitze der Agentur, einer seiner Mitdirektoren war dem Alkohol verfallen, der zweite dem Spiel und der dritte war auch nicht mehr einsatzfähig. Hans im Doppelglück, einzeln und frei?

Irgendetwas stimmte nicht mehr. Beängstigend einzeln kam er sich vor, aber doch nicht frei. Im Gegenteil. Wer sollte alles im Auge behalten, wenn nicht er? Wer allein wusste, wie alles richtig war? Wer trug die Verantwortung? Und wenn er nach Hause kam, kochte er manchmal noch für die Kinder, denn seine Frau hatte zu tun. Sie machte unendlich filigrane Stoffbilder.

In Berlin-Heiligensee bekam der Schulfreund Lothar öfter schon am Mittwoch einen Anruf aus Schweden: „Ich komme übers Wochenende, und zwar morgen! Ich muss wieder Süßwasser riechen!“ Die Havel, das Meer seiner Kindheit, darauf ein weißer Spielzeugdampfer. Er wohnte dann bei seinem Schulfreund Lothar. Zuerst aber fuhr Hans-Joachim Bartels jedes Mal zu dem kleinen Kiosk, wo sie als Jungen Brause gekauft hatten. Wenn man doch in seine eigene Kindheit emigrieren könnte! Guck mal, da kommt der Schwede wieder, sagten jedes Mal die professionellen Trinker am Stand und wussten: Gleich gibt es Freibier. Alter Schwede!

Und dann fiel die Mauer. Berlin wurde eins, und er, Hans-Joachim Bartels, versuchte in Malmö Herr der Lage zu bleiben. Von einem Tag auf den anderen kaufte er eine Wohnung in Charlottenburg, die er zuvor nicht einmal gesehen hatte. Da fürchtete seine Frau zum ersten Mal, sie könne ihren Mann an Berlin verlieren.

Nicht viele Menschen können einen Raum betreten, und den Anwesenden kommt es vor, als ginge eine Welt auf, Bartels gehörte zu ihnen. Vielleicht auch deshalb dauerte es lange, bis der Freund aus Kindertagen Verdacht schöpfte, bis er erkannte, dass das Berlin-Reiseverhalten des Hans-Joachim Bartels nicht von der Laune eines Exzentrikers zeugte, der alles im Leben erreicht hatte, sondern dass es Notwehr war, seelische Notwehr.

Hans, du musst eine Therapie machen, erklärte der dagebliebene Heiligenseer dem weggegangenen. Und der sah das ein. Das Resultat war von schockierender Konsequenz. Bartels verkaufte seine Firma und das große Haus in Malmö, er ließ sich von seiner Frau scheiden und wurde Vollzeitberliner. Der Stadt widmete er fortan sein Leben. Er durchfuhr sie in seinem azurblauen Audi-Cabriolet und fotografierte sie zu allen Tageszeiten. Hans-Joachim Bartels begann sein zweites Leben als Berlin-Flaneur. Leben einzeln und frei. Leichter werden, Gewichte abwerfen!

Die Existenzweise des Flaneurs ist transitorisch. Die Schwere der Welt lastet nicht auf ihm, sie begrüßen einander nur. Zwischen den Exkursionen trank er im KaDeWe öfter ein Glas Chablis und aß einen halben Hummer. Das azurblaue Cabriolet wurde bald gestohlen, aber er nahm es der Stadt nicht übel. Leichter werden!

Doch es kam der Tag, der ihn sein Eigengewicht wieder spüren ließ: Die Diagnose lautete Krebs, das war vor zehn Jahren. Ich kann nicht sterben, bevor ich das alte, neue Berliner Schloss gesehen habe!, beharrte Bartels. Er hat es nicht mehr geschafft. De e som de e, steht an seinem Baumgrab. Das ist schwedisch, es heißt: Es ist wie es ist.

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