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Nachruf auf Hans-Jürgen Schodder (Geb.1951): Dass das geht!

Wie kann ein Glückskind nur so viel Pech haben. Mit dem Rad fuhr er übers Tempelhofer Feld, sooft er konnte. Eine Geschichte ohne Happy End.

Von Julia Prosinger

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Klingt nach einer richtigen Geschichte: Einer, der bei jeder Gelegenheit hinaus aufs Tempelhofer Feld fährt mit dem Rad. Runden im Wind, Himmel über Beton. Freiheit in der Stadt. Und der dann ausgerechnet Opfer dieser Freiheit wird.

Hans-Jürgen Schodder liebte gute Geschichten. Franz Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“, ein armenisches Dorf rettet sich vor dem Genozid auf einen Berg. B. Travens „Rebellion der Gehenkten“ über die mexikanische Revolution. So etwas hat er gemocht. Und diese hier hätte er bestimmt weitererzählt.

Das hat er als Kind gelernt. Während die anderen Bälle kickten, las Hans-Jürgen von Abenteuern. Zunächst weil die verhasste Brille ihm den Sport verleidete. Bald konnte er nicht mehr verstehen, warum jemand seine Zeit mit Fußball verschwendet.

Vom Großvater lernt er Rebellion

Gute Geschichten kann man immer wieder erzählen. Wie ein kleiner Junge auf der Straße ihn hartnäckig für Franz Beckenbauer hielt, berichtet Hans-Jürgen Schodder. Und wie er das heftig abstritt und trotzdem das Autogramm gab, selbstverständlich mit seinem richtigen Namen.

Wie es war, Kind zu sein in Wichdorf bei Kassel in den fünfziger Jahren: Ahle Worscht in Tante Elfriedes Vorratskammer klauen; Gott weiß doch ohnehin immer alles. Dem Großvater zuschauen, wie er – und das als Bürgermeister – den Leuten vor der Kirche von der Messe abrät.

Ein bisschen Rebellion hat Schodder sich da antrainiert. Später als Lehrer in Berlin kann er die gut gebrauchen. Er geht gegen Bildungskürzungen demonstrieren, obwohl das unter Beamten nicht gern gesehen wird.

Auf keinen Fall will er an einem Gymnasium unterrichten. In der Zeitung liest er, es sind die achtziger Jahre, von der Hector-Peterson-Oberschule, deutsch- türkisch, Reform. Da muss er hin!

Die Schüler sind besser als ihr Ruf

Er kommt gut aus mit den schwierigen Jungs in seinen Klassen, einer davon hieß Tim Raue. „Die Schüler sind besser als ihr Ruf“, sagt er immer und sammelt grinsend Handys auf dem Pausenhof ein. Er bleibt so lange wie niemand sonst an dieser Schule, streitet in der Gewerkschaft, ärgert sich über die schwerfälligen Kollegen, die es noch nicht mal versuchen, mit diesem „Internet“. Das kann doch sogar seine alte Mutter. Die besucht mit 80 noch einen Computerkurs.

Oder die Geschichte mit dem Kuchen. Da war das Familienauto in Santiago de Compostela verschwunden und Hans-Jürgen Schodder versprach seiner Tochter und seinem Stiefsohn, dass er für den Rest seines Lebens jede Woche einen Kuchen backen würde, wenn sie es nur wiederfänden. Das Auto war abgeschleppt, sie fanden es wieder, und Hans-Jürgen Schodder backte.

Schodder quillt über. Vor Liebe.

Aber er liebt das ja ohnehin. Wenn er Marmelade einkocht, dann nicht nur ein paar Gläser. Gazpacho bereitet er für eine Großfamilie zu. Als er Opa wird, nichts macht ihn glücklicher, versorgt er die Tochter mit eingemachtem Rhabarber, abgefülltem Olivenöl, Blumen.

Die Gefriertruhe quillt über, seine Frau räumt heimlich auf. Und eigentlich quillt Schodder über. Vor Liebe. Vor Begeisterung.

Manchmal ist das ganz unvernünftig.

Der Tochter backt er eine ganze Schüssel mit Streuseln, weil sie die lieber isst als den Kuchen. Er kennt das doch. Hat seine Osterhasen als Kind stets zu schnell vernascht. Konnte sich auch nicht beherrschen, die kleine Schwester zu beklauen. Wenn man von hinten das Silberpapier abknibbelt, merkt von vorn keiner etwas.

"Darauf stand Gefängnis"

Er fotografierte im Übermaß.
Hans-Jürgen Schodder (1951-2015)

© privat

Manche Geschichten macht Hans-Jürgen Schodder besser, als sie eigentlich waren.

Ihre Mutter zum Beispiel, erzählt er der Tochter, die habe er als Student bei der Arbeit „im roten Untergrund“ kennengelernt. Oder eben, aber das klingt nicht so spannend, über einem Büchertisch.

Oder die Sache mit Hans Eichel. Der soll den Studenten Schodder als Kassels Bürgermeister begnadigt haben. Hans- Jürgen Schodder hatte damals die Abwesenheit eines Redakteurs genutzt, um einen Artikel in die „Hessische Niedersächsische Allgemeine“ zu heben. Der Artikel war eine Anleitung zum Bücherklauen.

Schodder und seine Freunde in der ersten WG Kassels (Vorsicht, nächste Legende: dort soll es ein Müllzimmer gegeben haben, voll bis oben hin) fanden, dass jeder Zugang zu Bildung haben sollte. Bücher dürfen nichts kosten. Wenn doch, klaut man sie. „Darauf stand Gefängnis“, erzählt er, und dass der spätere Finanzminister Eichel ihn davor bewahrt habe.

Alles geschieht gleichzeitig, alles im Übermaß.

Auch Schodders Tage quellen über: Philharmonie, Theater, Museum (den Museumspass hat er sich geliehen, denn noch immer denkt er, dass Bildung umsonst sein muss), Ausflüge zur Documenta in Kassel, Treffen mit dem Literaturzirkel, Pflanzen züchten. Hardcover kauft er nicht, weil es schöner ist, sondern weil er nicht auf die Paperbackausgabe warten will.

Alles geschieht gleichzeitig, alles im Übermaß. Alles sofort. Da passiert es schon mal, dass er die kleine Tochter im Körbchen auf der warmen Herdplatte abstellt. Es riecht so komisch. Zum Glück kokelt nur der Korb.

Dass das geht! Hunderte Schallplatten auf einer einzigen Festplatte verewigen. Muss Schodder unbedingt umsetzen.

Dass das geht! Die Tochter schickt Bilder aus Chile, noch während sie reist. Von einem Ende der Welt ans andere. Das fasziniert ihn mehr noch als die Fotos.

Die Kamera schafft 600 Bilder pro Minute

Hans-Jürgen Schodder stellt seiner alten Mutter die Reise der Tochter digital zusammen, mit Googlemaps, alle sind verbunden, die alten Schodders reisen am Schreibtisch mit durch Südamerika.

Dass das geht! In Berlin einen neuen Flughafen bauen. Schodder radelt raus, zur BER-Baustelle. So gut ging das dann doch nicht.

Aber das! Es gibt da diese neue Kamera, die schafft 600 Bilder pro Minute. Drohnen, das wäre das nächste Ding gewesen. „Wie willst du das alles auswerten?“, fragt sein Jugendfreund, der Fotograf. Erst mal unwichtig.

Möglichst klein muss die Kamera sein, damit sie in die Sakkotasche passt, Lehrerlook, Hemd, Jackett. Mit dem Ding kann er jederzeit die falschen Apostrophe von den Straßenreklamen festhalten.

Schodder sammelt solche Kuriositäten auf seiner Internetseite. Er fotografiert viel mit Unschärfe, verfremdet einen Stapel CDs.

Er fotografierte im Übermaß.
Hans-Jürgen Schodder (1951-2015)

© privat

Und Wolken, endlos, immer wieder Wolken. Seine Sehnsucht gilt dem Himmel. Er erträgt die U-Bahn nicht. Oft steht er früh auf, leiht sich ein Auto (in der Stadt ist ein eigenes doch Quatsch) und fährt zu den Kranichen. Liegt im Gras und nähert sich langsam mit der Kamera, bevor die Vögel abheben gen Süden. Vielleicht macht er noch den Segelführerschein?

Mit der hochschwangeren Tochter sitzt er auf einem Klappstuhl im Feld und betrachtet die Sterne. Nachts klettert er auf Dächern dem Blutmond hinterher.

Dass das geht, diese Enkel! Hans-Jürgen Schodder himmelt sie an.

Er resigniert vor dem Resignieren.

In den letzten Jahren nimmt er sich vor, weniger zu arbeiten. Vielleicht Altersteilzeit, vielleicht früher in Rente. Oder Dienst nach Vorschrift? Kriegt er natürlich nicht hin. Schodder resigniert vor dem Resignieren. Die Klasse allein lassen? Kann er einfach nicht.

Nichts ist schlimmer, als satt zu sein, die Neugier zu verlieren, den Impuls zu verlieren.

Und darum lernt er auch noch mal, mit über 40, Aufbaustudium Informatik, wird Fachbereichsleiter in der Schule.

Diese Freiheit darf man nicht begrenzen!

Dass das geht! Manchmal vergisst Hans-Jürgen Schodder, dass er etwas bereits bestaunt hat. Staunt einfach noch mal. Genauso intensiv.

Toll, wie dieses Gummigestell das neueste Smartphone am Fahrradlenker festhält. Braucht er, wenn er mal wieder einen Umweg fährt, um noch am Tempelhofer Feld vorbeizukommen. Für ein paar Runden Berliner Luft. Das darf man auf keinen Fall bebauen! Diese Freiheit darf man nicht begrenzen!

„Ich bin ein Glückskind“, sagt Hans-Jürgen Schodder gern über sich. Wie kann ein Glückskind nur so viel Pech haben.

Seine Geschichte nimmt kein gutes Ende. Er stürzt an einem Samstag auf seinem Tempelhofer Feld, als ihn ein Kitesurfer überholt. Er stirbt an einer Hirnblutung.

Man wünschte, das wäre erfunden.

Er fotografierte im Übermaß.
Er fotografierte im Übermaß.

© Hans-Jürgen Schodder

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