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Hans Raphael Goetz (1921 - 2013)

© Privat

Nachruf auf Hans Raphael Goetz (Geb. 1921): Entlassung erwünscht

"50 Prozent meiner Geschichte habe ich vergessen, die anderen 50 Prozent habe ich verdrängt“, sagte er. Aber das stimmte ja nicht. Er war ein Jude, ein Überlebender, mag sein. Aber auf diese Rolle wollte er sich auf keinen Fall festlegen lassen.

Viele Stunden verbrachten die Schüler des Geschichtsprojekts „Spurensuche“ im Landesarchiv, viele jüdische Museen und Archive schrieben sie an. Fündig wurden sie in Yad Vashem: Dort waren einige der 229 jüdischen Schüler, die laut Aufnahmebuch einst ihre Schule besucht hatten, verzeichnet. Es waren die Namen von Toten, umgekommen in den Konzentrationslagern.

Dann aber meldete sich das jüdische Museum in Dänemark: Die beiden Brüder Wolfgang und Hans Goetz stünden in ihren Registern, beide lebten, der eine in London, der andere in Kopenhagen.

Der Jüngere, Hans Goetz, nahm die Einladung an. Für eine Woche wollte er nach Berlin kommen und seiner alten Schule, dem Kreuzberger Leibniz-Gymnasium, einen Besuch abstatten.

Im Sommer 2005 empfingen die Schüler am Flughafen einen schlanken, alten Herrn mit sauber gebundener Krawatte, dichtem weißen Haar und munteren Augen. Sie überreichten ihm Blumen und brachten ihn in sein Hotel. Schnell war man beim Du, schnell verabredete er sich mit der Lehrerin auf ein Bier. Sehr skandinavisch, fand diese. Geduldig lauschte er am nächsten Tag der Begrüßungsansprache der Direktorin. Dann war er an der Reihe. Und begann so: „Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hier bin. 50 Prozent meiner Geschichte habe ich vergessen, die anderen 50 Prozent habe ich verdrängt.“ Die Lehrerin begann sich Sorgen zu machen. Hans Goetz aber lachte, und die Schüler lachten mit.

Es war, als wollte er sich schützen gegen die Blicke der Zuhörer, die in ihm zunächst nur den Überlebenden sahen. Doch er war nicht Überlebender, er war Hans Goetz, Musiker und Philosoph, spezialisiert auf Constantin Brunner. Dessen Gedanken zum „emanzipierten Judentum“ zeichnete Hans Goetz in einem seiner Aufsätze nach: Emanzipation, so erläuterte er, bedeutet Entlassung. Und das forderte er von seiner Umgebung: Die Entlassung aus jeder von außen zugeschriebenen Rolle. Auch der des Opfers.

Was ihn nicht davon abhielt, im Laufe der Woche dann doch aus seinem Leben zu erzählen.

Er wuchs auf als Sohn einer Pianistin und eines kaufmännischen Angestellten, der nebenher die Philosophen und Mystiker studierte und Chefredakteur der „Jüdisch-liberalen Zeitung“ wurde. Sie aßen nicht koscher, sie fuhren mit der Straßenbahn zu den Synagogen, in denen der Vater als Hilfsrabbiner Reden hielt. „Mit der Muttermilch trank ich die Musik, mit dem Vaterbier die Philosophie.“ So behütet war das Leben bei seinen Eltern, dass Hans Goetz sich im Rückblick als „kindliches Kind“ bezeichnete:

Hans Raphael Goetz ca. 1943
Hans Raphael Goetz ca. 1943

© Privat

Ein Junge, der lachte, weil die Lehrer sich nicht entscheiden konnten, ob die jüdischen Kinder den „Deutschen Gruß“ nun mitmachen sollten oder nicht. Und wenn Menschen im Familien- und Freundeskreis der Eltern von Emigration zu sprechen begannen, dann glaubte er, was seine Eltern sagten: dass sie nicht bedroht seien, weil der Vater die dänische Staatsbürgerschaft besaß. Und weil ein „Kulturvolk wie die Deutschen“ die Nazis nicht lange dulden würde.

Doch am 20. Juni 1934, „da habe ich, pflege ich zu sagen, meine Unschuld verloren.“ So erzählte er es den Schülern. Er hatte Sommerferien und war eingeladen, seine Tante in Dänemark zu besuchen. Vom so genannten „Röhm- Putsch“ wusste er nichts, bemerkte am Hafen in Stettin aber Polizisten mit Karabinern. Die aufgeladene Stimmung sprang über auf das Schiff. Kurz nach dem Ablegen wurde er von Zollbeamten ins Verhör genommen: Was ihm sein Vater beim Abschied in die Tasche gesteckt hätte? Wahrheitsgemäß antwortete er: „Er hat mich nur umarmt.“ Doch die Männer sprachen von „Leibesvisitation“, zwangen ihn in eine Kabine und nötigten ihn, sich auszuziehen. Was dann geschah, erzählte er nicht weiter.

„Das war ein tiefer Einschnitt in mein Leben“, sagte er und fuhr fort: „Seitdem habe ich mir immer Beamte – oder überhaupt Autoritäten, vor denen andere Leute Angst kriegten, – in Unterhosen vorgestellt.“

Er lachte, und die Schüler lachten mit. Wenn er in dieser Woche des Abends ins Café lud, kamen die Schüler freiwillig. Er war klug, unangepasst und witzig. Keiner, den sie bemitleiden mussten, sondern einer, den sie bewundern durften.

1937 war Hans Goetz einer der letzten jüdischen Schüler an dem Kreuzberger Gymnasium. Zwar bescheinigten ihm die Zeugnisse, dass er ein stiller Junge mit gutem Betragen sei, doch „wenn es mir zu weit geht, kann ich bissig werden, um nicht zu sagen, hysterisch. Es kam zu einer Schlägerei im Klassenzimmer. Alle gegen mich, ich gegen alle.“ Die Schlägerei endete damit, dass der Lehrer, der von Hans unbemerkt das Klassenzimmer betrat, versehentlich einen Schlag abbekam. Das wurde zum Anlass genommen, ihn der Schule zu verweisen, nicht schimpfend, ihn nicht direkt herabwürdigend, sondern mit freundlichen, vernünftig klingenden Worten. Die Eltern waren einverstanden. Auch ihnen schien ihr Sohn an der jüdischen Oberschule sicherer aufgehoben.

Dass jede Sicherheit längst Illusion war, zeigten kurze Zeit später die Ereignisse der „Reichspogromnacht“.

Ein Begriff übrigens, der Hans Goetz vermutlich nicht gefiel. Eine intellektualisierte Sprache im Zusammenhang mit Judenfeindlichkeit konnte er nicht leiden. Neo-Nazis solle man schlicht Nazis nennen, forderte er. Am meisten störte ihn das Wort „Antisemitismus“, das die Juden einem „bestimmten Volksstämmchen semitischer Rasse“ zuordnet. Auch dazu zitierte er Brunner: „Der erste Schritt, den Antisemitismus genauer kennenzulernen, ist, dass man die dummbarbarische Wortverfechtung übersetze in das vorhandene deutsche Wort, wodurch ehrlich und ohne Umschweif die Krankheit bezeichnet wird: Judenhass.“

Am Morgen nach der Verwüstungsorgie in jüdischen Einrichtungen wurde sein Vater auf das Polizeipräsidium gebracht. Hans suchte umgehend den dänischen Generalkonsul auf. „Dort bekam ich meinen ersten Unterricht in Politik. Der Konsul sagte, er hoffe, dass mein Vater heute Abend nach Hause käme. Für diesen Fall riet er, Retour-Fahrkarten für den Nachtzug nach Kopenhagen zu kaufen. ,Sie können sicher verstehen: Dänemark kann ja nicht Deutschland den Krieg erklären, weil Ihr Vater verschwunden ist.’ Mein Vater kam abends zurück, man hatte noch keine Zeit gehabt, mit ihm zu sprechen, und so sollte er am nächsten Tag wieder erscheinen. Am nächsten Morgen aber waren wir in Kopenhagen!“

Hans Raphael Goetz bei seinem letzten Besuch in Berlin 2012
Hans Raphael Goetz bei seinem letzten Besuch in Berlin 2012

© Privat

Während Deutschland den Zweiten Weltkrieg begann, studierte Hans Goetz im nahen, fernen Dänemark Waldhorn im Hauptfach, Violine im Nebenfach und verliebte sich in Kaja Aisen. Doch die Harmonie wurde bald wieder unterbrochen, noch einmal griffen die Nazis nach seinem Leben. Er hatte gerade seine erste Stelle als Solo-Hornist angetreten, als sich die Nachricht von der bevorstehenden Deportation aller dänischen Juden verbreitete. Wie tausende andere Juden wurden Hans und Kaja von dänischen Fischern nach Schweden gebracht, wo sie freundlich aufgenommen wurden. Die Nacht in dem Boot aber war eine einzige Angst-Fahrt, der Wellengang hoch, das Boot überfüllt, die Küstenwache im Sichtfeld, und wer wusste schon, dass die Schweden sie nicht zurückschicken würden?

Nach dem Krieg baute sich das Paar in Dänemark ein ruhiges Leben auf. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Hans Goetz arbeitete als Hornist und Dirigent in verschiedenen Orchestern und nahm im Alter von 50 Jahren das Philosophiestudium auf.

Wie einst sein Vater wurde er Vorsitzender des Constantin Brunner Instituts in Den Haag. So holte er sich die Welt, wie er sie vor den Nazis kennengelernt hatte, zurück: Denken und Musik, für ihn zwei Synonyme fürs Leben. „Was wir verkehrt denken, müssen wir verkehrt leben.“

Als die Lehrerin der Projektgruppe ihn nach seinem Identitätsgefühl fragte, antwortete er: „Wenn Dänemark angegriffen wird, fühle ich mich als Däne, wenn die Juden angegriffen werden, fühle ich mich als Jude. Doch wenn Deutschland angegriffen wird, fühle ich mich nicht als Deutscher.“

Als Hans Goetz wieder abreiste, sahen die, die ihn kennengelernt hatten, längst nicht mehr nur den Überlebenden, sondern eine Person, die einen großen Eindruck hinterließ. Der Kontakt blieb bestehen. Er lud zu sich nach Kopenhagen und fuhr selbst noch mehrere Male nach Berlin. Doch so scharf sein Verstand blieb, sein Körper wurde zusehends schwächer.

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