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Helmut Lock (1941 - 2013)

© Elisabeth Kmölniger

Nachruf auf Helmut Lock (Geb. 1941): Mit Fahrrad, Wahn und Witz

Bevor er losfuhr, war wenig mit ihm anzufangen. Von Kilometer zu Kilometer wurde er klarer. Dann sprudelten die Weisheiten nur so aus ihm. Oder der Wahnwitz. Und dann war er noch Vater. Nachruf auf einen Radfahrer.

Von David Ensikat

Sie saß auf einer Bank im Neuköllner Körnerpark, als er sich zu ihr setzte. Ihre kleine Tochter spielte auf dem Spielplatz. Sie und der Mann kamen ins Gespräch, er sprach viel, sie wenig, und sie dachte: Woher kennst du diesen Mann? Sie fragte ihn nach seinem Leben, er erzählte. Er habe mal Familie gehabt, eine Tochter, Gabi, einen Sohn und eine Frau, die er geliebt habe, aber das sei lange her, er wisse nichts weiter über sie.

Sie, Gabi, aber wusste jetzt, wer dieser Mann war. Als sie elf war, hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Da hatte er ihr eine Barbiepuppe geschenkt mit einem himmelblauen Ballkleid. Wie sie die geliebt hat. An den Tag, als er sie ihr geschenkt hatte, konnte sie sich gut erinnern. Er war mit ihr umhergelaufen, sie hatten sich unterhalten, und sie hatte sich gewünscht, dass er bei ihr bleiben sollte, ihr Vater. In einigem Abstand war ihr Bruder hinter ihnen hergelaufen und hatte gedacht: Hoffentlich ist er bald wieder weg. Es war nur dieser Nachmittag gewesen, an dem der Vater seine Kinder hatte sehen dürfen. Er hatte ausnahmsweise einmal Unterhalt gezahlt, da ließ die Mutter das ausnahmsweise einmal zu.

Fünf Jahre davor war er zu Hause rausgeflogen. Er hatte gesoffen wie ein Loch, hatte die Mutter verprügelt und den Bruder auch, nur Gabi nie. Die Mutter hat gesagt: Gut, dass er weg ist, jeder beschissene Tag ohne ihn ist tausendmal besser als jeder mit ihm, nehmt euch bloß in Acht vor dem.

Dann der Tag mit der Barbiepuppe und jetzt das Treffen auf der Parkbank. Ob er sie erkannte? Er ließ es sich jedenfalls nicht anmerken. Und sie? Sie hatte Angst, wusste gar nicht genau, wovor. Sie sagte, sie heiße Sabine. Und dachte: Wenn du wüsstest. Das Mädchen, das hier vor uns spielt, ist deine Enkeltochter, und du hast keine Ahnung.

Helmut Lock (1941 - 2013)
Helmut Lock (1941 - 2013)

© Elisabeth Kmölniger

Sie verabschiedeten sich freundlich, es vergingen die Jahre. Gabi bekam noch einen Sohn, und ihr Leben geriet aus den Fugen. Der Vater ihrer Kinder trennte sich von ihr und behielt die Kinder bei sich, sie war seelisch krank und sehr allein. Irgendwann, das mag jetzt 15 Jahre her sein, ging sie zum Amt und erkundigte sich nach ihrem Vater, Helmut Lock. Man gab ihr die Adresse, sie schrieb eine Karte, zwei Tage später stand er vor der Tür. Sein Fahrrad hatte er draußen abgestellt.

Es war ein langer Abend, Gabi machte einen Kaffee nach dem anderen, es gab so viel zu sagen. Aber vieles von dem vielen, das ihr Vater sagte, machte wenig Sinn, für Gabi jedenfalls. Er sprach von Eisbären und Krokodilen, dann von klassischer Musik, dann von astronomischen Erkenntnissen. Da war sicherlich viel Kluges dabei, er wollte ja mal Lehrer werden, das hat er auch erzählt, und bestimmt hätte er das Zeug dazu gehabt, bestimmt. Nur ist ihm irgendwie das Seriöse abhanden gekommen, das Zielgerichtete. Er redete laut, manchmal geriet er fast ins Brüllen. Sein Lachen war ohrenbetäubend. Er wechselte abrupt die Themen.

Ihr Vater, das merkte Gabi schnell, war ein wenig wahnsinnig. Aber sie wusste ja, dass die Seele eine komplizierte Sache ist, sehr anfällig, von Zeit zu Zeit ist keinerlei Verlass auf sie. Das Entscheidende war: Sie hatte ihren Vater wieder. Und er soff nicht mehr.

Sie trafen sich nun regelmäßig, alle zwei, drei Wochen. Da gab es keine großen Verabredungen, mit dem Telefonieren hatte er’s nicht so. Er kam einfach vorbei. War schließlich ein mobiler Mensch – man kann sagen, dass sein aktuelles Leben vor allem aus Mobilität bestand: Helmut Lock war der Mann mit dem Fahrrad. Wer ihn kannte, kannte ihn nur mit Fahrrad, ständig unterwegs. Mal hatte er Luftballons am Lenker, mal ein Kette, an die er Möhren, Paprika oder Blumen geknüpft hatte, er trug Hut, seine Hosenbeine waren hochgekrempelt. So fuhr er durch die ganze Stadt, durch den Osten, durch den Westen, für die Mahlzeiten machte er Station an Suppenküchen und Kleiderstationen für Arme und Obdachlose. Er bewohnte kleine Wohnungen und später Sozial- WGs. Es gab Betreuer, die ihm beim Wohnraum und beim Geld halfen, sonst kam er allein zurecht, ganz allein.

Freunde gab es nicht, denn für Freunde muss man sich interessieren. Für ihn war es schon schwer genug, all die Dinge, für die er sich interessierte, zu sortieren. Er hat das mal so gesagt: Ich habe nachgedacht, wie es dazu kommt, zu diesem Durcheinander im Kopf, das Wirre, die Verwirrung. Das Denken oder sagen wir mal der menschliche Geist verwirrt sich selbst, wenn er kein Ziel hat, auf das er hinarbeiten kann, hindenken kann. Oder wenn er von dem Ziel abgelenkt wird durch Dazwischengequatsche zum Beispiel von den anderen Idioten. Aber wenn der Geist ein Ziel hat, dann ist das auch nicht ungefährlich, weil der Geist versteift sich dadrauf, der wird stur, der will keine anderen Ziele neben sich dulden.

Das steht neben vielen anderen Zitaten in dem Heft „Worte des Radfahrers Helmut Lock“. Zusammengestellt hat es die Journalistin und Fotografin Elisabeth Kmölniger. Sie hat mit ihm Radtouren unternommen. Vielleicht war er der Interessanteste, Originellste von all denen, die sie kennengelernt hatte auf ihrer Recherche über arme Menschen in der Stadt. Er nahm sie gern mit auf seine Ausflüge, er redete auf sie ein – was auf dem Fahrrad gefährlich werden konnte, da es den Verkehr drumherum ja auch noch gab. Wenn sie Rast machten und sie auf einer Bank saß, lief er, ein „Matrix“-Zigarillo nach dem anderen rauchend, vor ihr auf und ab und dozierte.

Es ist ja so, dass du jeden Augenblick deines Lebens so oder anders auffassen kannst. Positiv oder negativ, himmlisch oder höllisch. Zum Beispiel dieser Regen jetzt: Du kannst sagen, er ist scheiße, oder er ist schön. Und beides ist die Wahrheit. Beides! Das ist die Zweipoligkeit, die überall drinsteckt. Oder oft ist es auch dreipolig: Vater, Sohn, Heiliger Geist. Vatermutterkind, Materie, Energie und … (lacht) Ich geh’ mal pinkeln.

Wenn er dann kurz weg war, schrieb sie seine Sätze ins Notizbuch. Dann war er wieder da: Wenn ich mir überlege, was ich alles erlebt und gefunden habe, bloß, weil ich als Mann zum Pinkeln oft hinter die Dinge trete, Gebäude, Fahrzeuge und so was alles.

Nachdem er lange in der Psychiatrie gewesen war, ruhiggestellt, sediert, sagte er: Das hat wochenlang gedauert mit den scheiß Pillen. Ich hab’ erst beim Radfahren wieder zu mir selbst gefunden. Und weißte wie? Dadurch, dass ich immer im Dreivierteltakt gefahren bin. Weil Dreiviertel, das ist das Tänzerische, das Beschwingte. Vierviertel, da fährste wie ’ne Puppe, so’ne mechanische, da steckt der ganze Militarismus drin, das Marschieren, der Krieg.

Die Journalistin hat erlebt, wie das Radfahren ihn beruhigte. Am Anfang der Touren war nicht viel mit ihm anzufangen, Kilometer um Kilometer wurde er klarer.

Die Musik, die Opern besonders, das sind ja alles Dramen, Tragödien, die kommen nicht zufällig zustande, das entsteht aus der Menschheitsgeschichte und dazu dann die eigenen privaten Geschichten, meine Scheidung und die ganze andere Scheiße, das hängt schon deshalb alles zusammen, weil ich ja schließlich auch die Menschheit bin, oder?

Gabi, seine Tochter unternahm auch Fahrradtouren mit ihm. Ewig weit sind sie gefahren, und er erzählte und erzählte. Und dann setzten sie sich irgendwo ins Gras, tranken den Kaffee aus seiner Thermoskanne, er rauchte, und sie schwiegen. Sie konnten das sehr gut, denn sie waren Vater und Tochter, sie mussten sich nichts beweisen. Einmal ist ihr ein Reifen auf einer Tour kaputt gegangen, er fuhr vorneweg, fuhr weiter und kam nicht mehr zurück zu ihr. Beim nächsten Treffen hat er sie so komisch angelächelt, und ihre Wut auf ihn war weg.

Ein anderer, viel wichtigerer Tag: Nach einer Tour ging sie mit zu ihm nach Hause. Eigentlich war sie nicht so gerne dort, weil sie hinterher nach seinen Zigarillos stank. Jetzt wollte sie sich vom Radfahren kurz bei ihm erholen. Sie legte sich aufs Sofa, schloss die Augen. Und er breitete eine Decke über sie. Sie war das Mädchen, er der Vater.

Der Bildhauer Harald Birck hat Ton-Plastiken obdachloser und armer Berliner angefertigt, darunter dieses Porträt von Helmuth Lock.
Der Bildhauer Harald Birck hat Ton-Plastiken obdachloser und armer Berliner angefertigt, darunter dieses Porträt von Helmuth Lock.

© Harald Birck

Sie erzählt gern über ihn, sie hat ihn geliebt. Sie erinnert sich an die Angst ihrer Mutter und ihres Bruders vor ihm. Sie weiß, dass er die Familie kaputt gesoffen hat. Und sie erinnert sich, wie er sie mit in seine Kneipe nahm, ihr eine Fassbrause kaufte und für sie die Musicbox anmachte. Sie tanzte zur Musik, und er war so stolz auf sie: „Das ist mein Engel!“

Dann war er fort und ist ein Radfahrer geworden, der merkwürdige Sachen sagte.

Eine Woche nach seinem 72. Geburtstag klingelten Polizisten mitten in der Nacht an ihrer Tür. Ihr Vater sei auf der Straße zusammengebrochen, man habe ihn gefunden, tot. Er sei zu Fuß unterwegs gewesen.

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