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Ingo Schulz (1953-2015) beim Aufbau der Kulissen seines Kinderprogramms, Ende der 80er Jahre.

© privat

Nachruf auf Ingo Schulz (Geb. 1953): Dienst an der Platte

Eigentlich sollte er als Lehrer arbeiten. Aber er wollte lieber Schallplattenunterhalter sein - so hießen in der DDR die DJs. Deshalb ließ er sich mit den Geheimdiensten ein. Der Nachruf auf ein wechselvolles Leben.

Von David Ensikat

Als Lehrer war er, sagen wir: umstritten. Weniger bei den Schülern, eher bei denen, die eine konkrete Vorstellung von sozialistischer Pädagogik hatten. Chemie und Mathe waren seine Fächer. Sein 19 Jahre jüngerer Bruder kann sich an einen Nachmittag erinnern, an dem Ingo ihm den Dreisatz erklären sollte, und das funktionierte überhaupt nicht. Zu der Zeit war Ingo allerdings längst kein Lehrer mehr und hatte einen hohen Preis gezahlt, keiner mehr sein zu müssen.

Wir fangen weiter vorne an, in den Sechzigern, da hatte er noch eine Lehre zum Dreher gemacht. Weil er dafür keinerlei Geschick aufbrachte, aber klug war, schickten sie ihn auf die „Arbeiter-und-Bauern-Fakultät“, eine Einrichtung, die der herrschenden Klasse zum Abitur verhalf. Es folgte das Lehrerstudium in Halle, und das hatte weniger mit Ingos Interesse und Neigung zu tun als mit den Bedürfnissen der Volkswirtschaft.

Die Bedürfnisse der Studenten wiederum lagen ganz woanders. Sie wollten tanzen, es gab an der Hochschule einen Essensraum, der sich dafür anbot, und es gab Ingo, der ein paar Schallplatten besaß und das Talent, die Titel auf eine Weise anzusagen, dass man nicht nur wusste, wer nun sang, sondern dass es sich hier auch um eine kultivierte Tanzveranstaltung handelte. Das Geld für Verstärker und Lautsprecher hatte er sich von einem Freund geborgt, die bunte Lichtanlage hatte der Vater eines Freundes zusammengelötet. Das war Anfang der Siebziger, und Ingo, der planmäßig Lehrer wurde, wurde außerplanmäßig „Schallplattenunterhalter“, so die offizielle Bezeichnung, SPU statt DJ.

Da in der DDR auch das Außerplanmäßige in geordneten Bahnen verlaufen sollte, musste Ingo Lehrgänge besuchen und vor Kommissionen sein Können unter Beweis stellen. Auch beim Schwoof galt es, die Regeln des sozialistischen Gemeinwesens zu beachten. Es ging ums ordentliche Äußere, die gepflegte Ausdrucksweise sowie technische und musikalische Kenntnisse, es wurde eine Spielerlaubnis erteilt, die sogenannte „Einstufung“, von der abhing, wie viele Leute ein SPU unterhalten und welche Gagen er verlangen durfte. Dass die 60-40-Regel galt, verstand sich von selbst, mindestens 60 Prozent Ostmusik, höchstens 40 Prozent aus dem Westen. War keine Kontrolle zu befürchten, unterlief man das natürlich.

Völlig übermüdet zum Unterricht

Mit Anfang 20 hatte Ingo also zwei Berufe – und je kritischer das seine Vorgesetzten sahen, desto cooler fanden ihn die Schüler: Es heißt, er sei zuweilen völlig übermüdet zum Unterricht erschienen, habe sich vor der Klasse mit dem Bunsenbrenner einen Tee bereitet und Schüler in die Kaufhalle geschickt, Brötchen holen. Einträge ins Hausaufgabenheft hat er mit seinem SPU-Stempel versehen.

Die Nachfrage nach Tanzveranstaltungen überstieg bei Weitem das Angebot. Ingo, dem mehr an Jimi Hendrix und Klaus Renft lag als an Mathe und Chemie, hätte nur zu gern seinen Lehrerjob aufgegeben. Dass ein Schwoof am Abend mehr Spaß macht als Unterricht am Morgen, ist ja klar. Außerdem machte Ingo gern den großen Zampano, wozu sich die Nebentätigkeit entschieden besser eignete als sein Hauptberuf. Zumal das Geschäft mit dem Vergnügen viel lukrativer war als das Lehrerdasein. Wie aber sollte er den Beruf, den die DDR für ihn vorgesehen und für den sie ihn teuer ausgebildet hatte, an den Nagel hängen? Es gab zu wenig Lehrer, folglich war die Abteilung Volksbildung auf keinen Fall bereit, ihn ziehen zu lassen. Wer fragt nach Eignung, wenn es einen Plan gibt?

Es war noch nicht lange her, dass Walter Ulbricht „dieses Yeah Yeah Yeah“ verdammt hatte. Die Staatsmacht misstraute ihrer vergnügungssüchtigen Jugend zutiefst: Konnte ein junger Mann, der seine langen Haare nach westlich inspirierten Rhythmen schüttelte, sich für die Stärkung des Sozialismus einsetzen? War eine junge tanzende Frau in viel zu engen Jeans, die sie sonst woher hatte, willens, am nächsten Morgen ihren werktätigen Kampfplatz freudig aufzusuchen? Was taten diese Nachkriegsmenschen da? Wie gefährlich war die Rockmusik?

Was lag näher, als einen Lieferanten dieser Droge zu befragen? So wandten sich die Meinungsforscher vom Ministerium für Staatssicherheit an Ingo. Es gelang ihnen, den selbstbewussten Kerl, der nie was für den Sozialismus übrig hatte und seine Heimat vornehmlich „Scheiß Osten“ nannte, als Inoffiziellen Mitarbeiter zu verpflichten, indem sie ihm halfen, seine Anstellung als Lehrer endlich aufzugeben. Gegen die Empfehlungen der Stasi war selbst die Abteilung Volksbildung machtlos. Wer fragt nach dem Plan, wenn es eine Gefährdungslage gibt?

Computer für den KGB

Ingo Schulz (1953-2015) beim Aufbau der Kulissen seines Kinderprogramms, Ende der 80er Jahre.
Ingo Schulz (1953-2015) beim Aufbau der Kulissen seines Kinderprogramms, Ende der 80er Jahre.

© privat

Wozu sie Ingo einsetzten, ob er jemanden verraten hat, ist unklar. Er sagte später, dass die Stasi viel zu blöd gewesen sei, Kompromittierendes aus ihm rauszukriegen. Und dass sie ihn Anfang der Achtziger an den KGB abtrat. Das sei anlässlich der Weltjugendfestspiele in Moskau 1985 geschehen. Da sollte er Kontakte zu Westlern aufbauen.

Die Sache ist ziemlich nebulös. Er erzählte, dass er das konspirative Spiel interessant fand – zumal er davon profitierte. Nicht nur, dass er kein Lehrer mehr sein musste. Er durfte auch hin und wieder in den Westen fahren, wobei sein Auftrag bestimmt nicht darin bestand, Westschallplatten für seine Diskothek zu beschaffen. Es hatte wohl etwas mit Computern zu tun und mit dem Embargo, das den östlichen Ländern die Einfuhr westlicher Rechentechnik verbot. Genaueres ist nicht bekannt, nur, dass ihm sein Agentenjob irgendwann nicht mehr geheuer war und die Wende, die das Spiel beendete, ihm sehr gelegen kam.

In beruflicher Hinsicht kann man das nicht sagen. Denn solange es die DDR gegeben hatte, war es ihm prächtig gegangen, er war mit seiner Diskothek „Ingo’s Plattenbar“ durchs ganze Land getingelt, hatte in den größten Kulturhäusern und in Devisenhotels seine Tonträger abgespielt und mit seiner kräftigen und tiefen Stimme die Titel angesagt und hin und wieder das Eis gebrochen, indem er ein auflockerndes Spiel anmoderierte, Luftballontanz etwa. Derlei gehörte selbstverständlich zum Repertoire eines staatlich geprüften Schallplattenunterhalters. Noch viel besser lief es mit einer Kinderspielshow, die er mit großem Aufwand entwickelt hatte. Ingo konnte sich vor Anfragen nicht retten und verdiente das Vielfache eines einfachen Werktätigen.

Mit dem Angesparten kam er in den ersten Jahren nach der Wende über die Runden, obwohl er sich nur mühsam ins neue System einfand. Er war 37 und musste ganz von vorn anfangen. Nach ein paar Jahren und merkwürdigen Versuchen fand er das Richtige: Er fuhr jetzt für den Vertrieb einer Kunstdruckfirma im Dienstwagen übers Land. Mit wildfremden Leuten ins Gespräch kommen, sie von Dingen überzeugen, darin war er gut. Er verdiente auch nicht schlecht und lebte endlich mit einer Frau zusammen, mit der er einen Sohn bekam.

Versandhandel "Sexrex"

Doch wie das so ist, die Firma ging bankrott, er hatte schon immer viel getrunken, jetzt trank er mehr, die Frau zog mit dem Sohn aus, und er trank noch mehr. Das war Anfang der zweitausender Jahre. Ingo war krank, der Suff, das ungesunde Leben all die Jahre, er ließ sich frühverrenten und musste jetzt mit 850 Euro im Monat klarkommen. Das war hart für einen, der immer großzügig gewesen war, der alle Welt eingeladen und kein Problem damit gehabt hatte, zu zeigen, dass es ihm blendend ging.

Umso erstaunlicher, dass er sich noch mal aus dem Sumpf herauszog. Ingo hörte mit der Sauferei auf und kümmerte sich wieder mehr um seinen geliebten Sohn. Dann setzte er sich ans Internet und suchte nach einem Handelsgebiet mit vernünftigen Margen. Er nannte seinen Versandhandel „Sexrex“, kaufte für wenig Geld größere Kondom- und Gleitmittelbestände auf und verkaufte sie für etwas mehr weiter.

Und er zog aus Waren an der Müritz nach Berlin. Er hatte immer von Berlin geschwärmt, hatte aber mit seinen unterschiedlichen Unternehmungen hier nie ein Bein auf den Boden bekommen. Das Internetgeschäft konnte er von überall betreiben, und womöglich floh er vorm Gerede in der Kleinstadt. Er handelte ja nicht mit Gartenschläuchen.

Das neue Leben bekam ihm gut. Freunde besuchten ihn, er ging in die Philharmonie, wenn der Eintritt frei war, er spazierte durch die Parks, er empfing und versandte Gleitmittel und Kondome.

Drei Jahre lief das so, dann kam der Krebs. Die Abstinenz der letzten Jahre hat ihn nicht mehr retten können.

Zur Beerdigung kamen etliche seiner Schüler. Obwohl er damals alles drangesetzt hatte, kein Lehrer mehr zu sein.

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