zum Hauptinhalt
Jürgen Kindel (1958 - 2013)

© privat

Nachruf auf Jürgen Kindel (Geb. 1958): Prof. Dr. Dr. Obdachlos

"Schlaf doch mal bei mir!", sagte er zu einem Nachbarn, der in einer Villa lebte. Er selbst lebte in einem Busch. Eine Prüfung für die Zehlendorfer in Dahlem: Wie weit reicht unsere Nächstenliebe?

Von Julia Prosinger

Manchen in Dahlem war, als habe Gott ihnen diesen Mann geschickt. Ihn einfach in eine Grünanlage gesetzt, zwischen die Eiben, Sträucher, Goldrauten. Damit sie nie vergäßen, wie gut es ihnen geht. Vier Jahre lebte Jürgen Kindel dort im Freien.

Wenn er gut drauf war, schmückte er die Laternenmasten mit Blumen, unterhielt sich mit Studenten an der Bushaltestelle, schenkte einer Nachbarstochter Perlen.

Wenn er schlecht drauf war, betrunken, Naziparolen brüllend die Königin- Luise-Straße entlangtobte, aus einem Busch hervorsprang, die heilige Messe störte, dann war den Dahlemern, als habe Gott ihnen eine Prüfung auferlegt: Wie weit reicht unsere Nächstenliebe?

„Prof.Dr.Dr. Obdachlos“ nannte er sich selbst. Über die Hälfte seines Lebens hatte er auf der Straße verbracht. Davor – man weiß nur, was er selbst erzählte – war er aufgewachsen bei Adoptiveltern in Alzey in der Pfalz, hatte in einer Musikkneipe gejobbt, eine Ausbildung zum Erzieher abgeschlossen, war mit Interrail gereist, nach Hamburg gezogen, hatte den Kontakt zur Familie verloren. Seine Mutter starb vor zwei Jahren und vererbte ihm 50 Euro.

Vom chinesischen Restaurant bekam er immer etwas Reis, beim Backshop gaben sie ihm heißes Wasser für die Thermoskanne. Mehrmals die Woche brachte ihm ein Nachbar English Toast, Brot mit Rührei. Der Italiener kochte ihm eine gewürzfreie Tomatensoße, als es ihm schon nicht mehr gut ging. Vielleicht war der „Obdachlose von Dahlem“, wie man ihn nannte, auch da, damit niemand vergisst, was Armut ist.

„Schlaf doch mal bei mir!“, sagte er zu einem Nachbarn mit Villa. Wer seinen Busch betrat, verscheuchte Mäuse, die von seinen Brotkrumen lebten.

Er war auch mit einer Krähe befreundet, fühlte sich von Hunden respektiert. Es waren die Menschen, die ihn störten, mit ihren klackernden Schuhen, dem Altmännerräuspern, dem schlurfenden Gang, dem Kratzen der Skistöcke. „Geräuschattacken“, nannte er, was er, unten am Boden, besonders laut hörte.

Er hatte Angst, dass ihm jemand seinen Besitz nehmen könnte: ein paar Plastiktüten voll Verpackungen und Papier und ein altes orangefarbenes Damenrad. Eines Sommers beschloss er, damit in den Urlaub zu fahren. Er kam bis zum Schlachtensee.

Wie er obdachlos geworden war, weiß man nicht. Er habe an fast alles einmal geglaubt, sagte er. An die Politik, er war Mitglied bei den Grünen, an die Arbeit, er gründete bei „Schlecker“ einen der ersten Betriebsräte. An die katholische und die evangelische Kirche, er war zwei Mal getauft. Kam der Pfarrer vorbei, beteten sie gemeinsam, bei Regen unter dem Dach der Bushaltestelle. Jürgen Kindel sprach das „Vaterunser“ auf Englisch. Er hatte ein paar Jahre in London gelebt, auch auf der Straße.

Ende der Neunziger war er im Gefängnis, wohl wegen Autodiebstahls. Kurz bevor er starb, beichtete er, und als er fertig war, beichtete er noch mal. So viel gab es zu erzählen.

Vielleicht war Jürgen Kindel da, damit die Dahlemer nie vergäßen, was Kälte ist. Den Winter, erklärte er, überlebt man mit drei Schlafsäcken, die Reißverschlüsse versetzt. Er baute sich ein Iglu aus Sonnenschirmen ins Gebüsch. Wenn es taute, schwamm er fast davon.

Vielleicht war er da, damit die Dahlemer nie vergäßen, was Würde ist. Seine Ansprüche behielt er. Er wollte immer genau wissen, wann er Besuch zu erwarten hatte, obwohl er eh da war. Er wollte behandelt werden, wie jemand der Termine hat. In eine stinkende Notunterkunft wäre er auch bei größter Kälte nicht gegangen.

Die Poloshirts, die die Nachbarn schenkten, sollten weiß sein, die Zigarren kubanisch, aus der Flasche trank er ungern. Und der Krankenwagen, ganz zum Schluss, als der Bauchspeicheldrüsenkrebs ihn hatte abmagern lassen, den sollten seine Dahlemer Freunde auf Punkt 13 Uhr bestellen.

Beim Requiem für Jürgen Kindel war die Kirche voll, bei seiner Beerdigung weinten die Nachbarn. Die Dahlemer hatten so viel für das Begräbnis gespendet, dass 3000 Euro übrig blieben. Am Schluss hatte der Pfarrer noch eine Frage: „Bekommt Jürgen einen Nachmieter oder gönnt er uns eine kleine Erholungspause?“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false