zum Hauptinhalt
Petra Winkler (1965-2015)

© privat

Nachruf auf Petra Winkler (Geb. 1965): Viele Stimmen, doch kein Chor

Sie malte ein Schloss, ihr Schloss, und sie lebte darin, Dornröschen war sie und Aschenputtel und Rapunzel. Aber was passiert, wenn der Ritter ausbleibt? Der Nachruf auf eine, die der Wirklichkeit entfloh.

Zuletzt: Der Sprung in den Blumenkelch, geradewegs ins Zauberland Oz, wo sie schon immer zu Hause war.

Die Wirklichkeit besitzt mich nie ganz, ich bin immer bereit, vor ihr zu fliehen. Es ist so leicht, in das andere Leben zu gehen, in das der Träume. Nein, das schrieb nicht Petra, obwohl sie von klein auf Tagebuch führte, das schrieb Hertha Kräftner, die ein noch viel kürzeres Leben als Petra lebte, weil sie sich schon mit 23 Jahren tötete. Aber ihre Gedichte hätte auch Petra schreiben können, ihre Seelenverwandtschaft war eine geschwisterliche, auch im Wahn.

Petra kam sehr klein auf die Welt, 48 Zentimeter, 2490 Gramm, fest eingewickelt in ein Moltontuch wurde sie an die Brust der Mutter gelegt, zu spät vielleicht, zu selten in diesen ersten Wochen, wo sich das Urvertrauen zum Leben herstellen sollte, das sie nie besaß.

Diese verfluchte Suche nach Ursachen. War es die Kurzsichtigkeit, die sehr spät erkannt wurde, sodass ihr in jungen Jahren die Gesichter verschwammen, kein Gefühl darin zu sehen, und Vorsicht – was will der andere, was ich unmöglich wollen kann.

Lag es in der Familie, aber ihre zwei Schwestern sind lebensfroh, und die Eltern liebevoll, war es der Zeckenbiss, die Borreliose, oder war es einfach nur Schicksal. Als sie mit elf die Brille bekam, veränderte sich alles und nichts. Kristallklar war die Welt nun, aber nicht wirklich freundlicher. Das Neblige hatte vieles sanfter erscheinen lassen, die harten Konturen der Wirklichkeit flößten ihr Angst ein. Zog sie sich zurück, weil sie Angst hatte oder weil sie dieses Talent besaß, mit sich selbst allein sein zu können? Ihr Zimmer war eine wohlige Höhle, Rückzugsort, dort schrieb sie Tagebuch, malte, hörte Musik, stundenlang. Der Kampf um unser Ego, wann beginnt er, wann wird das Werben ums eigene Ich, für das eigene Ich krampfhaft, krankhaft.

Sie verliebte sich, unsterblich

Dieses Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein, eingeschränkt zu sein im Fühlen und Wollen: „Ich muss mehr auf mich aufpassen und meine Interessen vertreten. Und Freiräume schaffen.“ Mitschüler können brutal sein, wenn sie ein leichtes Opfer ausmachen, und Petra war ein leichtes Opfer. Die Brille, die Dauerwelle, die sie wollte und dann hasste, als die anderen sie nicht mochten, ihre scheue Art, ihr Wunsch zu gefallen, nicht aufzufallen.

Und das heißt Mädchen sein: in all der Menge jäh erkennen: Ich bin allein. Sie wurde gequält, mit Worten, mit Nichtachtung, mit bösen Taten, die sie auf einen Ritter hoffen ließen. Und das heißt Mädchen sein: am Fenster stehn und warten und so voll Sehnsucht sein.

Mit acht malte sie ein Schloss, ihr Schloss, und sie lebte darin, Dornröschen war sie und Aschenputtel und Rapunzel. Aber was passiert, wenn der Ritter ausbleibt?

Künstler werden so geboren, aus der unerfüllbaren Hoffnung erwachsen Träume, Traumwandler. Sie wollte ja Künstlerin werden, sie mochte die wärmenden Farben, die ineinander flossen, die Dünen und Wellen Sylts, dort, auf der Heimatinsel ihrer Mutter war sie kein Außenseiter, im Ferienlager lebte sie auf. Sie spürte, Menschen mochten sie, wenn sie selbst auf die Menschen zuging.

Bevor sie sich entschied, was sie im Leben werden wollte, ging sie nach England. Die große Insel der Sehnsucht, schon als kleines Mädchen war sie neugierig gewesen auf die Sprache, und der Umgangston dort war so ein anderer, heartwarming: „What can I do for you dear?“

Sie verliebte sich, unsterblich. Die erste einer Reihe von unglücklichen Lieben. Er hatte ein Boot, „Seagull“, die große Möwe. Mehr als 30 Jahre ist das her, vor zehn Jahren hatte sie ihn das letzte Mal gesehen, in den letzten Wochen steigerte sie sich noch einmal hinein in diese Liebe.

War ich nicht leer, eh du kamst? Und nun nimmst du immer mehr von dieser Leere mir und füllst mich schwer mit deinem Nahesein. So füllt das Meer ein treibend Boot, das kam von ungefähr. Bis zuletzt hat sie ihn mit Mails überschüttet, mit ihrer Liebe überfordert.

{Ich bin die Glut im Inneren eines Vulkans.}

Gemeinsam mit ihrem Au-Pair-Kind hüpfte sie die Straße entlang wie Dorothy im Film „Der Zauberer von Oz“, und wie Dorothy hoffte sie darauf, dass sich ihre drei Gefährten durchs Zauberland als Helden erweisen würden, zumindest einer. Die Vogelscheuche, die nur Stroh im Kopf hat, der Zinnmann, in dessen hohler Brust kein Herz schlägt, und der ängstliche Löwe, der sich vergeblich Courage wünscht.

Aber anders als Dorothy hatte Petra kein Glück mit ihren Gefährten. Vielleicht bist du das Nichts, das alles ist? So träumte sie es herbei. Aber – es war alles nichts mit den Männern, die noch kommen sollten. Was nicht nur an den Männern lag. Wer sich nicht liebenswert glaubt, der kann nicht lieben, nur vergötzen oder verteufeln.

Als sie aus England zurückkam, wollte sie Malerin werden. Sie ging nach Berlin, bewarb sich an der Hochschule, wurde abgelehnt mit all der Häme, die Kunstbeamte an Talenten auszulassen vermögen. Sie studierte Anglistik und Germanistik, fand in Gottfried Benn eine Stimme wie die ihre, einer der nach Erlösung rief, ein Größenwahnsinniger, ein Paria, der den unteren Weg zum Olymp ging. Eine Weile ging sie hinterher.

The voice from within, 2004 hörte sie die Stimme zum ersten Mal, die innere Stimme, jeder von uns hört sie zuweilen, aber wer hört auf wen, wie laut wird sie, schmeichelt sie oder befiehlt sie, gewinnt sie die Überhand. „Mami, ich kann mit Gott sprechen.“

Sie beendete ihre Magisterarbeit über Benn, klug geschrieben, keineswegs assoziativ verspielt, eine akademische Karriere schien möglich. Eins ihrer Seelenbilder: Ich bin die Glut im Inneren eines Vulkans. Das vulkanische Inferno zum Herdfeuer herabgedimmt. Sie wollte das Bürgerliche, eine Familie, sie bekam zwei Kinder, sie hat ihre Jungs sehr geliebt, wie eine Löwin, auch wenn es zuweilen über ihre Kräfte ging. Widerstrebende Gefühle, zu viele Stimmen, die keinen Chor ergaben.

Denn dieser krank gewordne Wille, sich zu fassen, kann noch nicht die Gassen finden durch die Wand der ungesagten Worte.

Sie wusste, sie war krank, aber sie wollte es nicht. Die Krankheit pharmazeutisch einzudämmen, hieß sie einzugestehen. Was schwerfällt, wenn das Ego partout ein gesundes Gegenüber im Spiegel sehen will. Also schauspielerte sie. Sie war eine so begnadete Schauspielerin ihres eigenen Lebens, dass alle um sie herum auf ein Happy End hofften, hoffen durften. 22 Jahre arbeitete sie an der Börse, Bereich Marketing. Sie leistete gute Arbeit. Sie zog ihre Kinder weitgehend alleine groß, sie malte, zeitweise wie besessen, und sie war ihren Eltern ein gutes Kind, ihren Freunden eine hilfsbereite Freundin. Aber es war häufig Täuschung im Spiel.

Die Warnzeichen mehrten sich

Nicht nur die Kranken leben mit der Krankheit, auch die Gesunden. Der Kranke hält sich an seine Krankheit, sie ist Zauber, und Auszeichnung und Qual, aber den Angehörigen bleibt nur die Sorge, die Hilflosigkeit und nicht selten das Gefühl, von den Ärzten im Stich gelassen zu werden. Denn sie erfahren nichts. Sie sind verdammt, auf die Katastrophe zu warten. Denn zu viel Fürsorge hieße Entmündigung, und so kommt jedes Angebot zur Hilfe zwangsläufig zu spät. Die Warnzeichen mehrten sich. Zuletzt ist sie nur noch wenig ausgegangen, sie wollte lieber zu Hause bleiben, malen, Musik hören. Eine Ausbildung als Kunsttherapeutin hatte sie angefangen, aber die Stimmen wurden wieder lauter, dröhnender. Sie hätte sich selbst einweisen müssen.

Die schwarze Fee Zyprexa, die gute Fee, das Medikament, auf das sie nicht verzichten durfte, auf das sie dennoch verzichtete. Fünf Nächte hat sie nicht geschlafen, Essen und Trinken nahezu vergessen. Kurz vorher telefonierte sie mit den Eltern: „Mami ich versprech dir, dass ich Zyprexa wieder nehme, wenn es die Stimme sagt. Und dass ich Gudrun anrufe, dass sie mich in die Charité bringt …“

Um 16 Uhr 45 sprang sie. Mit einer Zahnbürste in der Hand und der Jacke über dem Arm trat sie auf den Balkon. Die Brille hatte sie abgesetzt. Sie hörte die Stimme. Sie sah hinab auf die Bäume. Sie sah nur Grün.

Das war kein Sprung in den Tod, das war der Sprung in eins ihrer Bilder: Taking the leap. Ein Kopfsprung in die Blume, die liliengleiche Calla, so der Name der Fee, die ihr flüchtiges Ich zärtlich in die Arme nahm. „Keiner liebt mich.“ Das war ihr größter Irrtum. Und ihre größte Hoffnung: Ihr Bestes wird in ihren Kindern weiterleben, Verwandlung statt Verwirklichung.

Zur Startseite