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Shahin Faghih-Nasiri (1999-2015)

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Nachruf auf Shahin Faghih-Nasiri (1999-2015): "Hab keine Angst!"

Stofftiere hat Shahin gehasst. Sein Lieblingsspiel: ein Feuchttuch wehen lassen. Er ging auf den Balkon und hielt es in den Wind. Je windiger es war, je stärker es wehte, desto freier fühlte es sich an. Eine Geschichte von hohen Hoffnungen und tiefen Stürzen.

Ein Falke wird getragen vom Wind, ein Kind von der Liebe der Eltern. Shahin, im Persischen der Falke, wurde am 7. Mai 1999 geboren. Warum die Angabe auf den Tag genau? Weil es in seinem Leben auf jede Stunde, jede Minute, zuweilen jede Sekunde ankam. Von einem Moment auf den anderen war er dem Tode nah, nicht nur einmal, viele Male, sehr viele Male. Was einer Mutter das Herz brechen kann, nicht nur einmal, viele Male.

In der Schwangerschaft war kein Anlass zur Sorge. Bei der Tochter hatte sie den ersten Schrei verpasst, Kaiserschnitt, bei ihrem Sohn wollte sie ihn miterleben.

„Glückwunsch“, das hörte sie, „ein Junge“, das hörte sie auch, aber sie hörte keinen Schrei. Er müsste doch längst geschrien haben! Die Schwestern hielten ihr das Kind kurz hin – und raus waren sie mit Shahin.

Die Ärztin kam. „Er atmet wieder … aber da sind weitere Probleme, Auffälligkeiten.“

„Ich will mein Kind sehen!“ Sie wurde mit dem Bett zu Shahin auf die Intensivstation geschoben. „Irgendwie siehst du besonders aus mein Sohn. Ein fliehender Unterkiefer, ein starker Oberkiefer, die Ohren ein wenig weiter unten, Finger und Zehen sehr gedrungen.“

Keinen Tag hatte sie ungesund gelebt während der Schwangerschaft. Grübeln ohne Ende. Schmerzen quälten, seelische, körperliche. Die körperlichen ließen nach.

Die Genetiker gaben sich die Klinke in die Hand. Von oben bis unten wurde Shahin durchleuchtet. Als er acht Wochen alt war, stand fest: Er litt am Oto-palato-digitalen Syndrom. Ein sehr seltener Gendefekt, über den es kaum Literatur gab.

Ein Professor in Oxford kannte sich etwas besser aus. Äußerlich ähneln sich die Betroffenen, aber die geistige Beeinträchtigung reicht von „ganz mild bis ganz wild“, so ihre eigene Grenzziehung.

Bei Shahin war es mild. Zeitverzögerte Entwicklung. Er war schwerhörig. Seine Muskulatur wuchs schwach. Saugen, schlucken, trinken, das alles ging sehr, sehr schwer. Es kam immer wieder zum krampfhaften Husten, zu Erstickungsanfällen. Er musste abgesaugt werden, immer wieder, immer wieder zurück ins Krankenhaus.

Wieder nach Hause. Wieder Anfälle. „Er blieb weg“, so nannte sie es, wenn er beinahe starb. Er verdrehte die Augen, wurde bewusstlos, von einer Sekunde auf die nächste. Notarzt, Feuerwehr, alle wollten helfen, aber sie waren oft hilfloser als die Mutter, denn sie wussten ja nichts von dieser Krankheit.

"Aber quäl uns nicht stündlich!"

Wieder zurück ins Krankenhaus. Allen bekannt war er der kleine Troubleman. Heilung gab es nicht. Nur Linderung. Wie im Flug des Falken, himmelhoch und tief der Sturz, und himmelhoch erneut die Hoffnung.

Immer wieder kam er zurück. Nach jeder OP wachte er stärker wieder auf. Alle Behandlungen ertrug er stumm und geduldig. Er hat mit seinen Augen gesprochen. Angst, Panik, seine Order in den Augen: Hilf mir! Lass mich ja nicht allein! Alles allein mit den Augen: Ich sag dir meinen Schmerz, sag du mir, warum? Er hatte so schöne Augen, große Augen, denen wenig entging.

Das Leben wurde anders. Wie kann ich es organisieren? Die drei Jahre ältere Tochter nicht vergessen, den Job machen, den Ehemann lieben, Shahin lieben. Beten für ihn. „Lieber Gott, entweder du hast ihn mir gegeben und du lässt ihn jetzt bei mir und hilfst mir – oder aber nimm ihn zu dir, hilf du ihm, wenn du kannst, aber quäl uns nicht stündlich!“ Das Stoßgebet half, nach Jahren. Er schaffte es. Ganz allmählich kam etwas Ruhe ins Leben.

Shahin lachte gern. Er hat nicht gesprochen. Erst als er die Gebärdensprache erlernte, konnte er sich besser verständlich machen. Da war er schon drei Jahre alt. Ansonsten brabbelte er, shahinisch, verständlich für die, die ihn liebten und ihm in die Augen sehen konnten.

Ab dem fünften, sechsten Jahr führte er ein Leben wie andere Kinder. Er ging in den Kindergarten, später dann zur Schule, er sollte ja zu Hause bleiben und nicht aus der Familie weggegeben werden. Azaria, seine Schwester, liebte ihn, ein verschworenes Paar, auch wenn es anders war, mit ihm zu spielen.

Er konnte ja nicht sitzen, nicht laufen, nicht gehen, er lag auf dem Boden und bewegte sich schlangengleich vorwärts. Vier Jahre hat er gekämpft, bis er sich selbst hinsetzen konnte. Ein Kraftakt, den er schweißüberströmt hinter sich brachte, jeden Tag aufs Neue. Zäh war er. Und diktatorisch zuweilen. „Kochen, jetzt“, befahl er. „Nein, jetzt!“ Ein Dickkopf. Er aß gern Fleisch. Herzhaftes. Grießbrei als Hauptmahlzeit? Bäh. Geschmatzt hat er, die Augen genießerisch geschlossen. „Wo lässt du das alles, du Kochlöffel auf zwei Beinen.“ Aber was er tat, kostete Kraft. Er musste ja sehr mutig sein. Mutiger als andere Kinder.

Stofftiere hat er gehasst. Sein Lieblingsspiel: ein Feuchttuch wehen lassen. Er ging auf den Balkon und hielt es in den Wind. Je windiger es war, je stärker es wehte, desto freier der Falke Shahin.

Er mochte sehr gern auf der Wiese liegen und die Blätter sich im Wind bewegen sehen, und dann hat er ihr Wehen zu Hause mit dem Feuchttuch nachgemacht. Im Fernsehen liebte er die Verkaufssendungen, wenn mit starken Gesten und reißerischer Mimik agiert wurde. Im Fernsehen entdeckte er auch seinen Helden, den Mann ohne Worte, den Mimiker des Schicksals: Mr. Bean, der fortan sein großer Begleiter und Freund war. Selbst auf dem Überwachungsmonitor im Krankenhaus versuchte er mit der Fernbedienung Mr. Bean zurückzuzaubern. Er war wie er. Anders als alle anderen, aber dennoch liebenswert. Fremden Kindern begegnete Shahin freundschaftlich, er nahm sie mit auf seine ganz eigene Lachreise. Flieg mit mir, auch ohne Flügel.

"Wenn du größer wirst, wird das kleiner"

Auf der Straße wurde er nie gehänselt, er hörte keine bösen Worte, er war ja immer in der Obhut der Mutter, der Schwester. Natürlich hatten die älteren Damen einen erhöhten Guckbedarf, aber so verkniffen. Kinder waren ehrlicher: Was hat er denn? Warum redet der nicht?

Er ist krank, erklärte sie dann. Die Krankheit wird vererbt, von den Müttern auf die Söhne. Dank Shahins Teilnahme an einer Studie wurde ein Bluttest entwickelt, der ausschließt, ob eine Frau Trägerin des Syndroms ist. In der Vorlesung über seltene Syndrome wurde seinerzeit auch sein Fall vorgestellt. Der behandelnde Professor sah nicht, dass die Mutter im Hörsaal war. Als ein Student nach der Lebenserwartung betroffener Kinder fragte, antwortete der Professor: „Sechs bis sieben Monate.“

Zu diesem Zeitpunkt war Shahin vier Monate alt. „So konkret warst du zu mir nicht“, dachte sie sich da. „Woher willst du das wissen. Ich finde, es wird immer besser.“ Die Mutter behielt recht.

Shahin mochte gern verreisen, im Flugzeug, im Auto, im Zug. Er wollte immer gern weg. Er hatte sich einen eigenen Koffer gewünscht, und den bekam er auch, einen kleinen roten Koffer, in dem er seine Sachen aufbewahrte, Sonnenbrille, Waschlappen und Feuchttücher.

Die Pubertät veränderte ihn. Er entdeckte sich im Spiegel, in der seitlichen Ansicht, und sah seinen Buckel. Wegmachen, forderte er.

Er war nicht mehr lustig. Das Leben war anders geworden. „Mach das weg!“

„Wenn du größer wirst, wird das kleiner“, versprach sie ihm. Fortan guckte er jeden Tag, ob er größer wurde. Er wollte nicht mehr in die Schule. Er war sauer und wütend auf das Leben. All das, was er vorher nie gesehen hatte, war nun da, im Spiegel: Er war anders. „Mach das weg.“

Nach Jahren wurde er das erste Mal wieder ohnmächtig. Die Ärzte sprachen von einem psychogenen Anfall, er entzog sich. Er wollte nur noch zu Hause bleiben, wurde launisch. Warf mit Dingen um sich. Das war ein anderes Leiden jetzt. Ein seelisches.

Sie gewöhnte ihn an den Gedanken, in einem Heim zu leben, wo alle Kinder waren wie er, ein wenig anders. Er blühte auf beim ersten Probewohnen, denn er spürte, dass er gemocht wurde.

Eine neue Perspektive für alle. Am ersten März hätte er dort einziehen können. Mit einem großen Koffer. So ist er eingeschlafen, an seinem letzten Abend. In der frohen Erwartung. Im Schlaf brabbelte er noch ein wenig shahinisch.

Morgens lag er da, leichenblass, die Augen weit aufgerissen, flacher Atem. Für den letzten Atemzug hatte er auf sie gewartet. „Hab keine Angst. Ich bin bei dir. Ich halte dich fest.“

Sein Leben, das war die Zeitspanne zwischen zwei Sonnenfinsternissen, im Jahr seiner Geburt verfinsterte sich die Sonne und im Jahr seines Todes, in den Jahren dazwischen war reine Sonnenzeit, denn da flog Shahin, der kleine Himmelsfalke.

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