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Uwe Wulsche (1954-2016)

© privat

Nachruf auf Uwe Wulsche (Geb. 1954): Der Uwe mit den abben Beenen

Ein Priester im Rollstuhl? Undenkbar. Nicht in der DDR. Nicht in Rom. Auf der ganzen Welt nicht. Priester haben bei ihrer Weihe ganz zu sein, geistig und körperlich. Uwe Wulsche wurde Priester, und was für einer.

Uwe ist 25, als sich alles verändert. Er geht ins Bett, spricht noch ein Gebet, dann schläft er ein. Am nächsten Morgen spürt er, dass er nichts mehr spürt. Bis zur Brust hinauf. Rein gar nichts. Wenn Uwe seinem Gott im Himmel begegnen wird, will er ihn drauf ansprechen. Gott, wird er sagen, was sollte diese Zumutung, die du mir da auf den Weg gegeben hast.

Gott und Uwe. Sie führen eine intensive Beziehung, eine mit Liebe und Zuversicht, eine mit Hader und Wut. Wie alles anfing? Uwe ist sechs, als er am Fenster der elterlichen Wohnung steht, auf das kleine brandenburgische Nauen schaut und überlegt. Soll er seiner katholischen Mutter in die Gemeinde und in den Gottesdienst folgen? Oder bleibt er zu Hause bei seinem Vater, Atheist und SED-Mitglied. Uwe entscheidet sich und geht. Es ist die Entscheidung seines Lebens. Religionsunterricht, Erstkommunion, Ministrant. Uwe taucht immer tiefer in die Religion und in den Glauben. Gott wird sein Lebensgefährte.

Und zu Hause? Der Vater grummelt und zofft sich mit Uwe. Doch der lässt sich nicht abbringen. Sturköppe, alle beide. In der elften Klasse soll Uwe seinen Berufswunsch angeben. Und er spürt, dass es Zeit ist für ein Bekenntnis. Theologie will er studieren und Priester werden. Doch die DDR war nicht der Ort, an dem man Theologie auf einen Zettel notiert, wie etwa Arzt, Lehrer oder Polizist. Schon gar nicht, wenn der Vater SED-Mitglied ist und als Referent in der Volksbildung arbeitet. Der Kreisschulrat kommt, der Parteisekretär kommt, sie schmeicheln, sie diskutieren, sie drohen. Er soll an seine Zukunft denken und an die Konsequenzen. Doch Uwe bleibt stur und bekommt einen Vermerk als politisch unzuverlässig. Seine Lehrer geben ihm plötzlich schlechtere Noten. Auf dem Vater aber lastet der größte Druck, er wird als Erzieher in ein Kinderheim versetzt und einem Parteiverfahren ausgesetzt. Es herrscht Sippenhaft im Sozialistenstaat.

„Wurde auch Zeit“

Sieben Jahre später. Eine seltene Viruserkrankung hat Uwes Rückenmark angefallen und ihn über Nacht gelähmt. Die Ärzte wissen nicht, was sie mit ihm anfangen sollen und schicken ihn von Krankenhaus zu Krankenhaus. Eigentlich müsste er alle paar Stunden gewendet werden. Eigentlich. Am Ende schauen die blanken Hüftknochen aus ihm heraus. Ihnen bleibt nichts, als Uwes Beine abzunehmen und zu versuchen, aus dem, was übrig bleibt, ein neues Gesäß zu formen. Es ist ein schwerer Eingriff. Ob er ihn überlebt, ist ungewiss. Wie es Uwe damit geht? Er flüstert immer diesen einen Satz an seinen Gott: „Meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich fest.“

Seine Eltern wissen von nichts, denn Uwe will sie nicht beunruhigen. Doch die Ärzte rufen sie noch rechtzeitig herbei. Nun stehen sie an seinem Bett, umarmen ihn und aus dem Vater bricht es hervor: „Wenn du bloß lebst und glücklich bist.“

Und Uwe lebt. Sein Gott hat ihn festgehalten. Er ist nun der „Uwe mit den abben Beenen“. Doch wie soll es weitergehen? Wie soll, wie will, wie kann er jetzt leben? Welcher Uwe ist er überhaupt, wenn die Hälfte vom Uwe fehlt?

Zwei Jahre dauert es. Krankenhaus. Pflegeheim. Zu Hause. Die Mutter versorgt ihn und macht ihm mit ihrer pragmatischen Art klar, dass er jetzt weiterzuleben hat. Schließlich will Uwe es selber, weiterleben, weiter Theologie studieren. Soll er sich umsonst durch Latein und Altgriechisch gequält haben? Soll er sich umsonst durch die trockenen Stunden kirchlicher Gnadenlehre geschlagen haben, um sich kurz vor Schluss von seinen abben Beenen aufhalten zu lassen? Uwe will Priester werden. Und wenn Uwe etwas will, dann lässt er sich davon nicht abbringen, der Sturkopp.

Uwe und sein Gott, der ihm Liebe, Schönheit und Wahrheit gibt. Der sein Leben reich macht. Ihm will er dienen. Doch Uwe hat nicht an die katholische Kirche mit ihren Regeln und Gesetzen gedacht. Ein Priester im Rollstuhl? Undenkbar. Nicht in der DDR. Nicht in Rom. Auf der ganzen Welt nicht. Priester haben bei ihrer Weihe ganz zu sein, körperlich und geistig. Uwe könne ja nach seinem Studium als Buchhalter im Ordinariat arbeiten. Doch nicht mit Uwe. Immer wieder lässt er dem Bischof Joachim Meisner ausrichten, dass er es ernst meint. Er wolle für seinen Gott als Priester da sein und nicht als Buchhalter. Wer, wenn nicht er, der großes Leid erfahren hatte, könnte anderen Menschen zuhören, sie verstehen, für sie da sein. Drei Jahre vergehen, bis der Bischof sich durchringen kann. Schließlich ist es 1985, als er verfügt: Ja, der Uwe Wulsche soll Priester werden. „Wurde auch Zeit“, sagt Uwe. Sein Priester-Leitspruch, den er sich selber aussucht: „Steht auf, habt keine Angst.“

Mit einem "Tach" eröffnet er seine Gottesdienste

Doch was macht ein Priester mit abben Beenen. Er wird Seelsorger im katholischen St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte. Wenn er zu den Patienten ins Zimmer rollt, neben ihren Betten einparkt und ihnen zuhört, wenn er sie tröstet, wenn er sie in den Tod begleitet und letzte Salbungen gibt, dann sitzt er auf Augenhöhe. Die Patienten müssen nicht zu ihm raufschauen und er nicht zu ihnen runter.

Jeden Tag hält Uwe in der Kapelle des Krankenhauses für die Ordensschwestern und Patienten Gottesdienste. Uwe zelebriert sie wie kleine Feste. Das spüren die Besucher. Es ist, als ob er für jeden Einzelnen von ihnen spricht, für jeden persönlich. Mit seinen pointierten, präzisen Worten. Mit seinen Vergleichen und Gedanken, direkt aus seinem Leben. Nicht abgehoben und fern, sondern nah. Mit einem trockenen „Tach“ eröffnet er seine Gottesdienste. Diese ganze Art, das ist was Besonderes, das spricht sich rum. Aus der ganzen Stadt kommen die Menschen, um sich von Uwe verheiraten oder ihre Kinder von ihm taufen zu lassen. Jeder kennt Uwe, und Uwe kennt jeden.

Ikonen überall

Sie richten ihm eine Wohnung im Erdgeschoss ein, gleich neben dem Krankenhaus in der Großen Hamburger Straße. Wenn die Schwestern und Ärzte nach der Spätschicht an seinem Fenster vorbeikommen und Licht sehen, klopfen sie. „Es zieht. Willste nicht reinkommen?“, sagt Uwe dann. Was Feines zu essen? Uwe kocht immer doppelte Portionen, könnte ja jemand vorbeikommen. Einen Kaffee? Den braut Uwe mit seinem Kaffeefilter aus Porzellan. Nur Tee, „den kann ich nicht, den musst du selber machen.“ Einen Wein? Hat Uwe im Vorrat. Ein Bier? Immer. Gerne auch noch in der Kneipe um die Ecke. Ein Zigarettchen? Zum Glück sind es 3,50 Meter bis zur Decke, da ist viel Platz für Zigarettenqualm. An Uwes Tisch wird gefeiert, geklönt, diskutiert und gelacht.

Wenn er Hilfe braucht, sind seine Freunde da. Einkaufen zum Beispiel, das schwere Zeug, aber am liebsten Blumen. Einmal die Woche braucht er zwei riesige Sträuße, einen für die Wohnung, einen fürs Krankenhaus. Und Kunstwerke. Die freien Flächen seiner Wohnung sind mit Malereien behangen, die er auf eBay und in Galerien ersteigert. Oder mit seinen Gedichten, die er schreibt und zusammen mit Freunden veröffentlicht. Und die Bücher, überall Bücher. Im Gang ein riesiges Regal. Im Wohnzimmer, alles vollgestellt. Und die Jesusikonen. Überall schaut Christus auf ihn herab. Mal glanzvoll, mal traurig, mal entstellt und zerfetzt. Wie das Menschsein. Wie Uwes Menschsein, angegriffen und verwundet und trotzdem voller Kraft.

Angegriffen war er die ganze Zeit. Mal schlimm, mal weniger schlimm. Die alten Leiden. Die alten Stellen. Mal offen, mal einfach nur schmerzend. Vor zwei Jahren wurde es schlimmer als sonst, und jeder Krankenhausaufenthalt macht ihn ein Stück elendiger. Am Ende hat ihm dann die Kraft gefehlt. Da ist er gegangen, zu seinem Gott.

„Klar haben wir Uwe geholfen, aber viel mehr hat Uwe uns gegeben“, sagen seine Freunde, versammelt an seinem Tisch, als Uwe schon nicht mehr ist. Es klopft am Fenster. Freunde kommen dazu. Freunde gehen wieder. Es ist wie früher. Der Qualm unter der Decke. Der Kaffee.

Klopf, klopf. „Uwe, biste etwa noch wach?“ – „Klar bin ich wach, komm rein, es zieht.“

zum schluss

will ich nicht

die faust

zeigen

vor enttäuschung

und leere

ich will

die hand öffnen

dem quell

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