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Nachruf: Max Brüder (Geb. 1948)

Lehrer müssen Ticks und Macken haben, ein Zugeständnis an die Schüler

Gelegentlich, unter gedämpftem Gekicher, in der Ecke neben der Schultreppe, äfften die Kinder ihn nach. Sie verschränkten die Arme hinter dem Rücken, spitzten die Lippen und wippten mit merkwürdig straffen Körpern rhythmisch hoch und runter, von den Fußballen auf die Fersen und wieder zurück. Der Parodierte stand derweil, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, über den Köpfen der ahnungslosen Witzbolde im ersten Stock des Schulgebäudes und schaute auf sie hinab, ohne Groll.

Lehrer müssen Ticks und Macken haben, fand Max Brüder. Ein Zugeständnis an die Schüler, die ein Ventil brauchen nach endlosen Stunden, die sie mit Kurvendiskussionen und Kinetik und Goethe zugebracht haben.

Der „Faust“ war Max Brüders Spezialität. Er mochte die angespannte Ruhe vor der Deutschstunde im Klassenzimmer, wenn die Schüler, mit geröteten Gesichtern, halblaut die Verse des Schlussmonologs probten; wenn sie dann, nach dem Klingeln, einzeln vortraten und die Zeilen rezitierten: Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,/ Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn! Er mochte diese Momente, in denen die Kinder in einen 180 Jahre alten Text eintauchten, dabei die eindeutige, einengende Interpretation, die der DDR-Lehrplan vorgab, vergaßen. Als sei Goethe ein Kommunist und Arbeiterführer gewesen! Max Brüder versuchte, die Lehrdoktrin in seinem Unterricht vorsichtig zu erweitern.

Eigentlich wäre er gern Literaturwissenschaftler geworden; hatte schon immer viel gelesen, Moby Dick und Schuld und Sühne und Stiller geliebt, obwohl, bis auf die Bibel, kein Buch bei seinen Eltern stand. Aber die DDR brauchte Lehrer. Also ging er nach Greifswald und studierte Deutsch und Englisch auf Lehramt, begann im Anschluss an einer Polytechnischen Oberschule in Berlin zu unterrichten.

Nach den Sommerferien, zu Beginn jedes Schuljahres, war es üblich, dass in der ersten Stunde über die politischen Ereignisse der letzten acht Wochen gesprochen wurde. Immer auch war ein Mitglied des Direktorats anwesend. Die Schüler trugen ihre einstudierten Sätze vor. Aber manchmal meldete sich eine Stimme, die abwich, die zu laut eine lästige Frage stellte. Dann gab es Ärger mit dem Mitglied des Direktorats. Wenn die Stunde endlich vorüber war, bat Max Brüder den Delinquenten leise zu sich und sagte knapp und konspirativ: „Pass auf!“

Er wollte den gewohnheitsgemäßen Opportunismus seiner Schüler nicht mehren, bestand aber darauf, dass sie an die Zukunft denken. Die Schüler ihrerseits vertrauten ihm, verstanden sofort, was er wie meinte, hatten ihn schon einige Male am Sonntagvormittag zum Gottesdienst gehen sehen. Nachdem sie die Schule längst alle verlassen hatten, nachdem es keine Mauer mehr gab, sie tatsächlich in einer Zukunft angekommen waren, trafen sie ihren alten Lehrer ab und an auf den Straßen in ihrer alten Gegend und sagten, sie hätten sich beschützt gefühlt, damals, von ihm.

Max Brüder fiel der Übergang in die neue Zeit nicht schwer – im Vergleich zu vielen seiner Kollegen, die am Rande eines Nervenzusammenbruches vor Klassen standen, die von ihnen Rechenschaft einforderten. Vielleicht, so sagte er es einmal, fehlt jetzt dieses bestimmte Prickeln, das entsteht, wenn man, gemeinsam und immer auf der Hut, Regeln untergräbt.

1999 zog Max Brüder sich aus dem Schulbetrieb zurück. Nicht, weil ihn die Schüler zu sehr strapazierten. Er wollte ganz einfach nur noch lesen und reisen. Was ihm auch über zehn Jahre gelang. Dann starb er an den Folgen eines Herzfehlers.

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