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Berlin: Annamaria Wolter (Geb. 1950)

„Wenn ich ins Gras beißen muss, dann mit einem Lächeln.“

Als Änni noch in Neukölln lebte, fuhr sie jeden Morgen mit dem Rad zur Arbeit nach Lichterfelde. Sie liebte frische Luft und die Bewegung. Sie stammte aus dem Rosental in Kärnten.

Ihren sommerlichen Teint und die schwarzen Haare hatte sie von ihrem Großvater, einem Italiener aus Apulien, der nach Österreich ausgewandert war. Als fünftes von acht Geschwistern war sie mit allen Wassern des alpinen Großfamilienlebens gewaschen. Wenn es laut und hektisch wurde, wusste sie, worauf es ankommt: Ruhe bewahren. Ideale Voraussetzung für ihren Beruf, Erzieherin.

Dass sie so gut mit Kindern umzugehen verstand, insbesondere mit quirligen Jungen, verdankte sie neben ihrer inneren Gelassenheit einem Paar wundersamer „Augen hinten im Kopf“. So erklärte sie es einer Mutter, die darüber staunte, wie Änni 30 tobende Kinder im Blick behalten konnte. Kinderbetreuung – das bedeutete zuallererst Beruhigung der Eltern: „Keine Angst, die kleine Lisa weiß genau, was sie kann!“ Lachend winkte Lisa aus dem Kletterbaum ihrer Mutter zu.

Ihre Ausbildung hatte sie an einer katholischen Nonnenschule in Kärnten absolviert. Es herrschte ein strenges Regiment. So streng, dass Änni gelegentlich ausbüchste, um sich ihrer Freiheit zu vergewissern. Nach der Ausbildung suchte sie das ganz Weite und ging für ein Jahr in die USA. Nach Berlin kam sie 1973. Zwei Berliner in Kärnten hatten sie auf die Stadt neugierig gemacht. Eigentlich wollte sie nur ein paar Monate bleiben, dann fand sie den Job in der evangelischen Kita, verliebte sich in einen Neuköllner und bekam zwei Kinder.

Fünfzehn Kinder betreute sie Tag für Tag. In den letzten Jahren lernte sie die Kinder der Kinder kennen, die sie an ihrem ersten Tag im Singkreis begrüßt hatte. Damals war das kleine Kollegium im Zweifel, ob sich die Einrichtung überhaupt lohne angesichts der alten Lichterfelder Einwohner. Dann kamen die starken Geburtenjahrgänge. Viele Eltern, vornehmlich bürgerlich geprägt, waren nicht frei von konservativen Rollenbildern und modernen Selbstzweifeln. Änni machte ihnen klar, dass Familie, Beruf und Kindergarten kein Widerspruch sind. Vollzeit zu arbeiten, war für sie völlig selbstverständlich.

Änni wollte, dass die Kinder sich einmal mit einem Lächeln an die Kita erinnern. Sie aßen ihr aus der Hand, ganz wörtlich. Sie hatte immer ein Stück Obst dabei, eine Stulle, etwas zu trinken. Nach der Scheidung 1990 zog sie mit ihrer Tochter in eine kleine Wohnung in Lichterfelde. Der Sohn blieb bei dem Vater. Es war das erste Mal, dass man sie bedrückt erlebte. Ihr sonst so strahlendes und genussvolles „Wunderbar!“ erlosch. Ihr Einkommen reichte gerade so zum Leben – doch Neid kannte sie nicht. Stolz war sie, als ihre Tochter ein Studium begann.

Das Ende ihrer 34-jährigen Dienstzeit konnte bitterer nicht ausfallen. Der Rücken war kaputt, ein Krebs wucherte in ihrem Körper – doch die Gutachter, die sie auf Geheiß des Arbeitgebers aufsuchte, um sich frühpensionieren zu lassen, ließen sich von ihrem blühenden Teint blenden. Das war fatal, weil ihr Arbeitgeber sie gar nicht mehr zurückwollte; zu viele Krankenstunden fürchtete er. So stand sie plötzlich mit nichts da, kämpfte nicht nur gegen den Krebs, sondern auch gegen Krankenkasse, BfA und Arbeitgeber. Den Krebs bezwang sie – mit dem Resultat, ein weiteres Jahr arbeiten zu müssen. Erst als der Krebs erneut ausbrach, wurde sie im letzten Sommer endlich verabschiedet. Zu spät, um nochmal zu Kräften zu kommen.

„Wenn ich ins Gras beißen muss, dann mit einem Lächeln“, sagte sie zu ihren Freundinnen im Lesekreis und zu ihren zwei Mitmusikern der „Kärntner Stub’n- Musik“. Ihr Lebensmut war ungebrochen. „Klimpern“ nannte sie das Gitarrenspiel, mit dem sie die Zithern begleitete. Kärntner Liebeslieder zu singen, das war für sie wie Almenduft, Skifahren und verträumt ins Rosental schauen – einfach „wunderbar“! Stephan Reisner

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