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Berlin: Carsten Hasselwander (Geb. 1961)

Alles Verordnete engte ihn ein. So wurde er Taxifahrer

So ein Rockstar- Ding: der Wunsch, mitten auf der Bühne, mitten im rasantesten Riff umzukippen, umtost von der Menge, von der Musik. Aber wenn man sich das weiter vorstellt: Der Jubel der Menge kippt um in Entsetzen, die Lichter auf der Bühne gehen aus, die im Saal gehen an, die Musik ist vorbei. Carsten hätte sie noch weiterspielen hören wollen, allein zu Hause oder im Taxi, wenn er nachts durch die Stadt fuhr, oder mit seinen Freunden.

Schwerer schöner Blues war an diesem Abend aus den Lautsprechern gekommen, er hatte mit einem Freund in der Deponie unter den S-Bahn-Bögen an der Friedrichstraße gesessen bei einem Bier, bei einem unaufgeregten Gespräch, eigentlich hätte es ein Konzert geben sollen, nicht weiter schlimm, auch vom Band war die Musik gut, Carsten hatte gerade einen Satz begonnen, hatte das erste Wort gesagt. Und kippte dann vom Hocker.

Sein Großvater war an einem Herzinfarkt gestorben und auch sein Vater. Vor Kurzem hatte er sich vorgenommen, ein bisschen weniger zu essen, sich ein bisschen mehr zu bewegen. Er besaß ein Fahrrad, aber Bewegung machte ihm schlicht keine Freude. Der Zeiger seiner Waage schlug eindeutig zu weit nach rechts, er war ja nicht blind, und er wusste auch, ab wann sein Gewicht zu einem Problem geworden war. Er war 22, und es war ihm unmöglich, über den Tod seiner Mutter zu sprechen. Er betäubte den Schmerz, verschlang still viel zu viel.

Was keineswegs hieß, dass er stumm war. Er plauderte, erzählte Anekdoten, aus seiner Kindheit in Blankenfelde, von der Zeit in Berlin und der Kneipe an der Oberbaumbrücke, vor der er nachts, nach Ladenschluss, manchmal mit einem Freund gestanden, auf die andere Seite geschaut und davon geträumt hatte, einmal hinüberzuspazieren, von der Reise in die Vereinigten Staaten, gleich nach der Wende, von den Leuten dort, mit deren Mentalität er nichts anfangen konnte, aus seinem Taxifahreralltag, den Kölner Türken, mit denen er durch Neukölln gefahren war und die gerufen hatten: „Wie sieht’s denn hier aus!“, vom alten Mann, den er in ostpreußischer Mundart angesprochen hatte und der seinerseits vor Erstaunen sprachlos war. Es gab kaum einen Dialekt, den Carsten nicht imitieren konnte, mit einer Sprachlust und einem Sprachwitz wechselte er vom Platt ins Bayrische, ins Berlinerische.

Sein Geist war dehnbar, er merkte sich hunderte Details, nahm alle Informationen leicht und nebenher auf. Mit einer Ausnahme: Die sperrigen Sätze aus den Marxismus-Leninismus-Seminaren während seines Medizinstudiums wollten nicht in seinen Kopf. Oder sein Kopf wollte sie nicht hineinlassen. Denn alles Verordnete engte ihn ein. Er entschloss sich gegen eine akademische Laufbahn und wurde Taxifahrer. Ein Leben im Takt geregelter Arbeitszeiten, immer zu einer festen Zeit an einem vorbestimmten Ort Leistung abliefern zu müssen, widersprach zutiefst seiner Vorstellung von einem freien Leben. Durch die Stadt streifen, am Abend und in der Nacht, das Erkunden unbekannter Ecken, dazu die Gespräche im Wagen, die Leuchtreklamen in der Dunkelheit, die Stimmen von Leonard Cohen und Cat Stevens aus dem Radio – so konnte das was werden.

Um mit einer Frau zusammenzuziehen, war es irgendwann zu spät, zu weit lag die Zeit zurück, in der er andere Geräusche als seine eigenen in der Wohnung gehört hatte. Doch das machte nichts, so war’s eben. Es gab ja seine Freunde. Und diese Freunde waren nicht einfach nur Menschen, die man hin und wieder trifft, die an den Feiertagen aber lieber unter sich, in ihren Familien blieben. Mit diesen Freunden verbrachte er Weihnachten und Ostern, und wenn die Mutter des einen ihren Achtzigsten feierte, wurde Carsten selbstverständlich dazugeladen.

Am 27. März, auf seiner Beisetzung, spielten sie „A Friend is a Friend“ von Pete Townshend. Am 31. Juli werden sie es noch einmal auflegen, wenn sie seinen Geburtstag feiern.

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