zum Hauptinhalt

Berlin: Christian Wurm (Geb. 1967)

Eine Ich-AG braucht kein Attest vom Arzt

Die Trompete bestellte Christian im Internet. Der Klang war nicht so wichtig, er konnte sie gar nicht richtig spielen. Schön laut sollte sie sein, denn er selbst war eher ein stiller Mensch. An der Weltzeituhr am Alexanderplatz hatte er einige Tage zuvor zwischen Demonstranten gestanden, die gegen die „Agenda 2010“ protestierten. Christian, der Professorensohn aus Zehlendorf, war 37 Jahre alt, und es war seine erste Demo.

Die Blicke der vorbeieilenden Passanten waren ebenso zweifelnd wie die Berichterstattung über diese Montagsdemonstrationen: Da machte sich Woche für Woche ein Haufen von Hartz-IV-Empfängern und verkrachten Existenzen Luft, die sich besser mal um eine anständige Ausbildung und einen Job bemühen sollten.

Christian war kein Rebell. Es war sein Lateinlehrer am Gymnasium in Zehlendorf, der erkannte, dass der nachdenkliche, politisch interessierte Junge zwischen seinen zielstrebigen Mitschülern, von denen viele bereits einen Lebensplan und ein Parteibuch der FDP besaßen, immer unglücklicher wurde, und schlug einen Schulwechsel vor. In Kreuzberg machte Christian ein hervorragendes Abitur. Danach begann er, an der Freien Universität zu studieren.

Als diplomierter Kartograf arbeitete er oft für öffentliche Auftraggeber. Doch sein Traum, Beamter zu werden, erfüllte sich nicht. Ministerien und Bundesländer beauftragten immer häufiger externe Firmen. In einer solchen fand er eine Stelle. Aber um die Jahrtausendwende folgten auch die kleinsten Unternehmen dem modischen Trend zur „Verschlankung“, und Christian fand sich auf dem Arbeitsamt wieder. Dabei war er gar nicht arbeitslos. Nur war er auf Anraten des Amts zu einer schlecht bezahlten Ich-AG geworden.

Auf einer Weiterbildung, die auf die Welt des Internets und des Programmierens vorbereiten sollte, saß er mit Leuten vor dem Computer, die aus verschiedensten Berufen kamen und sich in einer ganz ähnlichen Situation befanden. Einige wurden zu guten Freunden, sie nannten sich „Das Kompetenz-Team“. Eine Art Stammtisch, jeden ersten Freitag im Monat.

Christian lebte bescheiden in einer kleinen Neuköllner Wohnung, sein einziger Luxus: eine Sammlung wertvoller Jazzplatten, die er sorgfältig digitalisierte, um das Vinyl zu schonen. Er war nicht auf staatliche Hilfe angewiesen, ließ sich aber darauf ein, mit seinen Freunden auf die Demonstration gegen die neuen Sozialgesetze zu gehen. Ihn rührte das Schicksal der Minijobber, der Altenpfleger, die trotz 50-Stunden-Woche Geld vom Amt benötigten. Die prekäre Situation am Rand der Scheinselbstständigkeit kannte er nur zu gut.

Ein Jahr lang hörte man den kleinen Mann mit dem lichten Haar und dem freundlichen Blick jeden Montag auf dem Alexanderplatz kräftig in seine Trompete blasen. Es war ein fröhlicher, humorvoller Protest. Dass die Organisatoren der Demonstrationen, bierernste Maoisten von der MLPD, sich die Ohren zuhielten und ihn zu mehr Ernsthaftigkeit ermahnten, freute ihn umso mehr.

Und obwohl Christian, enttäuscht von den etablierten Parteien, gerne mit seiner Einkaufstasche mit der Aufschrift „Inhalte überwinden“, einem Wahlspruch der Satirepartei „Die Partei“, in den Supermarkt ging, war sein Engagement alles andere als oberflächlich. Von seiner ehrenamtlichen Arbeit in einem Café für Obdachlose erfuhren die Freunde vom „Kompetenz-Team“ erst nach seinem Tod.

Die Grippe hatte er alleine zu Hause auskurieren wollen. Eine Ich-AG braucht kein Attest vom Arzt. Als die Lungenentzündung entdeckt wurde, war es zu spät. Christian Wurm ging so still, wie er gelebt hatte. Aber viele werden sich an sein lautes Trompetenspiel erinnern.

Zur Startseite