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Berlin: Christina Gross (Geb. 1965)

Wer kann an ein Ende glauben, der immerzu am Anfang steckt?

Sie hätte es machen können wie viele andere Gattinnen europäischer Männer in Indien: ein bisschen shoppen, ein bisschen Ayurveda, ein paar indische Tänze lernen. Doch „Madam“ war nicht so.

Kamen Handwerker in das Haus in Chennai, holte „Madam“ ihre Bohrmaschine hervor und demonstrierte ihnen den Gebrauch. „Sir“ stand daneben, still und respektvoll.

Das Dorf bei Hannover, in dem sie als Tochter eines Handwerkers aufgewachsen war, hatte Christina verlassen, um fortan nie wieder ein Leben in der Enge zu fristen, sei es räumlich in ihrer Rolle als Frau. Trotz ihres guten Abiturs hatte sie sich zu einer Krankenpflegerinnenausbildung entschlossen, weil das eigenes Geld versprach und ein Zimmer in der Stadt.

Von da an war sie zur Reisenden geworden, zur Grenzüberwinderin. Einzige Heimat wurde die Beziehung mit Andreas, den sie seit ihrer Jugend kannte und den ebenfalls das Fernweh trieb.

Sein Auslandssemester verbrachten sie in Brasilien, er in der theologischen Fakultät, sie als Schwester in einem Altenheim, dann in Bussen durch das Land klappernd.

Zurück in Deutschland machte Christina eine Fortbildung zur Hebamme und wurde selbst Mutter: Nur nicht stillstehen lassen, das Leben, ganz nah dorthin, wo es beginnt. Keine sechs Wochen alt war das Baby, als sie wiederum nach Brasilien gingen, wo Andreas sein Auslandsvikariat machte.

„Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.“ Mit diesen Worten hatten sie ihre Ehe beschlossen, sie bildeten das Fundament für ein gemeinsames Leben in Freiheit.

Nach dem Babyjahr in Brasilien wollte Christina wieder arbeiten. Jetzt übernahm Andreas, frischgebackener Theologe, die Kinderbetreuung, nicht nur für das erste, sondern auch fürs zweite und dritte Kind.

Sie lebten von Christinas Gehalt. Hatte er Zeit, schrieb Andreas an seiner Promotion. Manchmal begleitete Christina ihn in die Archive. Dann wurden sie wieder das reisende Paar, unterwegs in der Vergangenheit, fremde Familiengeschichten zu erforschen.

Einige Jahre später, als Andreas seinen Doktortitel hatte, beschlossen sie, Rollen und Kulissen abermals zu erneuern. Als Bühne für den nächsten Akt wählten sie Indien. Sie zogen nach Chennai, ein viertes Kind wurde geboren.

Andreas arbeitete jetzt als Theologiedozent, einmal im Monat hielt er deutschsprachige Gottesdienste ab. Christina, deren Hebammenausbildung nicht anerkannt wurde, blieb bei den Kindern. Aber: kein Pfarrhäuschen, kein Pfarrfrauen-Leben, darauf legte sie wert.

Sie waren jetzt in einem Alter, in dem vieles erreicht war, in dem die Bequemlichkeit lockte. Christinas Sehnsucht aber ließ noch immer keine Ankunft zu, sondern Aufbruch, Aufbruch in einen neuen Beruf, in die Mitte der indischen Gesellschaft, hinaus aus der Blase der Deutschen, mit deren Heimatabenden sie wenig anzufangen wusste.

In der Zeitung las sie von einem Ausbildungslehrgang zur Montessori-Pädagogin. Es folgten zwei anstrengende Lehrjahre, in denen sie die einzige Ausländerin war. Kam sie nach Hause, war sie müde, aber zufrieden. Ihre geschickten Hände, ihre Freude an Kindern: Der Beruf passte.

Sie bekam eine Stelle an einer Schule. Dort wurde sie schnell die sonderbare Fremde, die es wagte, sich der Direktorin, die einer hohen Kaste entstammte, entgegenzustellen, eine Narrenfreiheit, die Christina nur zu gerne nutzte.

Sie wollte bleiben, die Zeit in Indien verlängern. Doch die beiden Ältesten verlangten eine Rückkehr nach Deutschland. „Nie auf dem Rücken der Kinder“, das hatten Christina und Andreas einander versprochen. Und wieder wurden die Zelte neu aufgebaut, diesmal in Berlin, wo sie beide eine Anstellung fanden.

2010, ein Jahr nach ihrer Rückkehr, wurde bei Christina Krebs diagnostiziert. Dass damit das Ende eingeläutet sein sollte, glaubte sie nicht, wie auch, sie steckte wieder mitten im Anfang.

Sie trug jetzt wieder dieselben grellbunten Farben wie als junges Mädchen, hoffte, lachte, liebte, arbeitete weiter. Der Krebs breitete sich aus, sie kämpfte gegen ihn an, mit allen Mitteln, den schulmedizinischen und den alternativen.

„Wie geht es dir?“, fragte Andreas, nicht wissend, dass dies ihr letztes Telefonat war. „Alles gut“, antwortete sie aus dem Krankenzimmer, „tudo bon“, wie sie es von den Brasilianern gelernt hatte.

Die Zimmernachbarin erzählte später, dass Christina am Abend im Bett gesessen habe, lesend, zuversichtlich, offensichtlich nicht ahnend, dass dies ihre letzten Stunden waren. In der Nacht, im Schlaf, erlitt sie eine Lungenembolie. „Denn Liebe ist stark wie der Tod“, diese Worte kommen jetzt wieder zu Andreas zurück. Jelena Schulte

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