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Berlin: Edith Klude (Geb. 1926)

„Schätzchen“, sagte sie und zog an ihrer filterlosen Roth-Händle

Es ist nicht so, dass Edith Klude jahrzehntelang Daumen gedreht hätte. Sie mistete Kuhställe aus, krümmte sich auf Feldern, beseitigte Berliner Trümmer, demontierte Werksanlagen für die Alliierten und ging in die Fabrik. Und mit 47 war sie, offiziell, eine Berufsanfängerin.

Als sie an ihrem ersten Berufsschultag das Klassenzimmer mit den schnatternden Stenokontoristenanfängerinnen betrat, wurden die augenblicklich still und standen auf. „Setzt euch mal wieder“, sagte Edith, „ich bin eine von euch.“

Im Anschluss an die Ausbildung bewarb sie sich bei einer Bank. Während des Einstellungsgespräches fragte der Chef: „Was können Sie denn?“ Edith schaute an die Wände des Raumes und antwortete: „Besser tapezieren allemal.“ Vielleicht guckte der Chef erstaunt, vielleicht musste er lachen, am nächsten Tag jedenfalls durfte sie mit der Arbeit beginnen. Autoritätsgehabe hatte ihr noch nie Angst eingejagt. Als Pflichtjahrmädel klaute sie Koks, um es in den eisigen Arbeitslagerbaracken aushalten zu können. Weil das Essen aus nichts als wässrigem Kohlrübeneintopf bestand, schrieb sie einen Beschwerdebrief an die höchste Stelle. In Britz, wo sie als Flakhelferin an den Scheinwerfern stand, sollte sie am 20. April 1945 ein paar schöne Worte zum Führergeburtstag vortragen. Aber sie sagte nur: „Der faule Hund hat keinen Beruf gelernt“, und lief weg. Falsches Gerede und Duckmäuserei verachtete sie. Ein Freund ihres Sohnes erklärte ihr einmal in aufgeblasenen Worten die weite Welt der Politik. „Ach, halt doch die Klappe“, sagte sie und beugte den Kopf wieder über ihr Buch.

Edith las pausenlos, täglich die Zeitung, immer schon sonntags den „Spiegel“, Kriminalromane, vor allem aber politische Literatur, Ralph Giordano, Henryk M. Broder, Biografien über Helmut Schmidt und Mao. Eine Buchhändlerin versorgte sie mit Neuerscheinungen, und wenn ihr das Buch nicht gefiel, durfte sie es unbezahlt zurückbringen. Für „Feuchtgebiete“ reichte ein flüchtiger Blick.

Las sie nicht, stand sie in ihrem Garten. Pflückte eimerweise Äpfel, Pflaumen und Birnen und kochte Erdbeermarmelade. Vielleicht dachte sie manchmal beim Anblick der schmalen Schrebergartenbeete an die weiten Felder Ostpreußens. Denn im Grunde war sie keine Großstädterin, sie erschrak damals, 1944, als sie zum ersten Mal auf dem Bahnhof Friedrichstraße wartete, über die S-Bahn-Türen, die sich automatisch öffneten. „Ich war eine dumme Gans“, sagte sie später, „ich dachte allen Ernstes, ich könne nach dem Krieg zurück nach Memel und sprang auf einen Güterzug.“ Auf der Hälfte der Strecke riss ihr ein Mann den Rucksack vom Rücken und rief wütend: „Ich war im KZ!“ Edith hatte das Wort noch nie gehört.

Wieder in Berlin, traf sie Hans-Joachim. Sie heirateten, sie bekamen zwei Söhne. Hans-Joachim starb früh, die Kinder waren klein, Edith ging putzen und in die Fabrik und ließ sich nicht unterkriegen. „Schätzchen“, sagte sie zu den Leuten, die sie mit irgendwelchen Unverschämtheiten belästigten und zog seelenruhig an ihrer filterlosen Roth-Händle. Sie ließ sich von ihren Söhnen auf dem Motorrad zur Arbeit bringen, saß hinten auf der Maschine im luftigen Rock, die Tasche unter den Arm geklemmt. Sie tapezierte die Wände ihrer Freunde. Sie kümmerte sich um einen behinderten Jungen. Sie sagte: „Wer gut schmiert, der gut fährt“, und schenkte dem Hausmeister und den Handwerkern jedes Jahr zu Weihnachten eine Flasche Schnaps. Sie gewann mit ihren Kollegen einen Fünfer im Lotto und fuhr mit ihnen ein Wochenende nach Paris.

Doch dann zerriss es ihr das Herz. Ihr ältester Sohn starb an Krebs. Sie ging weiter in den Garten, sie schrieb die Geschichte der Kolonie auf marmoriertes Papier, sie wartete auf das letzte Herbstfest. Danach kam sie ins Krankenhaus. Manchmal, wenn die Schwestern das Essen neben ihr Bett stellten, sagte sie: „Ach, bringen Sie mir doch heute ein Gläschen Champagner?“ und amüsierte sich über alle Maßen. Tatjana Wulfert

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