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Berlin: Edith Richard (Geb. 1922)

Doch ist sie jung, und es geht eben weiter

Dieses Kalenderbüchlein passt bequem in eine schmale Handtasche. Auf zwei mal neun Zentimetern soll man seine Termine eintragen, rasch und knapp. Auch Edith schreibt keine weitschweifigen Sätze. Am 21. Februar 1955 etwa: „Von 16 bis 20 Uhr bei Uschi.“ Oder am 25. Februar: „Mit den Kindern im Wald.“ Doch braucht sie sogar diese wenigen Worte kaum. Denn sie zeichnet, was während des Tages geschieht: Am Dienstag sitzen sich zwei Frauen, Edith und Uschi, gegenüber, beide ein Kissen im Kreuz, die eine führt die Kaffeetasse zum Mund, die andere hält sie auf dem Schoß. Am Samstag wirft Edith in einem winterlichen Park Schneebälle nach ihren Kindern. Am Donnerstag ist selbst das kürzeste Wort überflüssig: Eine dicht behängte Wäscheleine windet sich tief in den papierenen Raum hinein. Kleinste Details sind deutlich erkennbar, jeder Strich sitzt, alle Proportionen stimmen.

Obwohl Edith das Zeichnen nie gelernt hat, zumindest nicht auf akademischem Weg. Ihr erster Zeichentisch ist die Sitzfläche eines Stuhls. Zuerst malt sie, was sie in Bücher sieht, dann, was ihr begegnet, wenn sie hinaus geht und durch den Garten der Großmutter streift. Diese Zeit auf dem Land macht sie glücklich, nach den Unruhen in Oberschlesien, der Flucht, der Rückkehr. Dort auch, auf dem Weg zur Schule, im Schaufenster eines Ladens, sieht sie, was Harmonie ist in der Kunst. Sie betritt den Laden und zeigt auf die ausgestellte Büste: „Wer ist denn diese Frau?“ – „Die Nofretete, mein Kind.“

Sofort möchte sie alles über das Leben der Schönen wissen. Sie liest viel, vor allem Gedichte, erst Eichendorff, später Rilke. Wenn ihre Mutter Klavier spielt, steht sie neben ihr und wendet die Notenblätter um. Wenn ihr Vater an einem einfachen Radioempfänger baut, setzt sie sich Kopfhörer auf und horcht in die Welt hinaus.

1938 zieht die Familie nach Hameln, Edith schließt ihre kaufmännische Lehre ab, wird 1939 zur Arbeit in einem Flugzeugwerk dienstverpflichtet. Auf dem Weg dorthin, auf dem Weg wieder zurück, spricht sie Zeilen von Rilke vor sich hin: „Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß.“ Sie wird zur Schwesternhelferin ausgebildet. Und trifft ihre erste Liebe, einen jungen Stukaflieger. Im Krieg stürzt er in den Tod.

Sie geht nach Berlin, arbeitet in einer Munitionsfabrik, besucht die Abendschule, um ihr Abitur nachzuholen und sitzt mit ihrer Schwester in den Theatern, sieht Gustaf Gründgens als Mephisto, der den Faust und das Publikum verführt. Noch ahnt sie nicht, wie nah das Spiel dem Leben kommt.

Ab 1943 versorgt sie Verwundete in einem Lazarett des Roten Kreuzes. Während eines Krankentransportes schlägt eine Granate nur einen halben Meter neben ihr ein. Am 5. Mai 1945 kommt sie in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Sie glaubt, das Schlimmste sei überstanden. Die Ausmaße der deutschen Hölle aber, von denen sie jetzt erfährt, während der Verhöre, gehen über ihre Vorstellungskraft.

Doch ist sie jung, und es geht eben weiter. Sie trifft Franz und heiratet ihn. Um Geld für die junge Familie zu verdienen, besorgt sie sich Gummiplatten und Lederreste und stellt Schuhe daraus her. Immer wird sie eine Werkzeugkiste besitzen, wird fast alles selbst machen, Stühle polstern, einen Garten anlegen, Kleidung nähen, aus einem rohen Stück Holz Marionettenköpfe schnitzen.

Die Kinder kommen zur Welt, erst Barbara, dann Rainer und später, in Bremen, Michael.

Das Leben dort, in der Nähe zum Hafen, wird unbeschwerter, eine Art Bullerbüleben, mit all den Nachbarn und deren Kindern, die zusammen feiern, die einmal im Monat einen Große-Wäsche-Tag haben und sich gegenseitig ungeheuerliche Geschichten erzählen. Etwa von dem Häftling, der eines Tages ausbrach, über einen Hof flüchtete, die Polizisten hinterher rannten, ihn aber nicht einholten und dann in die Luft schossen, und, meine Güte, das ist ja wie im Film, die Kugel tatsächlich bei Müllers in der Suppenschüssel landete.

Für die Faschingsfeste entwerfen die Frauen die Kostüme, Edith geht als Puderdose, mit einem riesigen Quast auf dem Kopf. Am Wäschetag gibt es Bremer Gekochte, und damit alle Kinder Bescheid wissen, näht sie eine Fahne mit einer Wurst darauf und hisst sie am Fenster.

Und sie malt. Das Malen ist sozusagen in ihr. Gleich dem Beobachten. Ob sie wäscht oder kocht oder einfach nur auf einer Bank sitzt, sie sieht die Schönheit der Dinge noch im Kleinsten. Die Kalender entstehen und ein Kochbuch. Sie bemalt Porzellan, zeichnet Bühnenbilder und wagt sich an ein kubistisches Selbstporträt. Vergisst dabei jedoch nicht die Brüche, die ein Leben durchziehen können, beginnt, in einer Drogenberatungsstelle zu arbeiten.

Sie lebt jetzt allein, Franz ist gestorben, 1991. Sie zieht in ein Heim, und dann entscheidet sich ihre Berliner Tochter, sie zu sich zu holen. Edith ist glücklich. Die Furcht vor dem Tod weicht einer Lebensfreude. Sie malt wieder. Sie hängt ein Bild der Nofretete auf. Sie macht Pläne.

Einmal in der Woche kommt eine ehrenamtliche Begleiterin des Ricam Hospizes zu ihr. „Was lesen wir heute?“, ruft sie ihr, kaum dass sie das Zimmer betreten hat, zu. Sie nehmen einen Band Rilkes und Edith rezitiert: „Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag.“

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