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Berlin: Eva Deiner (Geb. 1927)

Sie reiste gern in die Sonne, denn gefroren hatte sie genug im Leben

Kaiser’s war ihr Leben. Ihr Obststand war der schönste in Moabit, ach was, in ganz Berlin. Als sie längst im Ruhestand war, machte sie immer noch regelmäßig Inspektionsgänge zu den Läden ringsum, und was sie da sah, gefiel ihr oft gar nicht. Der Obststand ist nun mal das Aushängeschild eines Lebensmittelmarktes, und der hat sowohl appetitlich als auch schön zu sein. Ist das streng? Nein, akkurat! Das hat nichts mit Pedanterie zu tun.

Wenn sie auf die Obstkiste trat, denn sie war eine sehr kleine Person und reichte nicht an die sehr hohe Anzeige der Waage heran, und mit ihren ein wenig unscharfen Augen auf die Eichstriche sah, für eine Brille war sie zu eitel, dann war es mal mehr, mal weniger ungenau, was sie ablas, aber das glich sich aus über die Jahre. Und wenn ein Kind an der Kasse zu wenig Geld dabeihatte, dann streckte sie aus der eigenen Tasche auch mal den Rest vor. Die Erdbeere zum Probeschmecken gab es sowieso umsonst, und die Scheibe vom Apfel auch.

Kein Wunder, dass die Lehrlinge sie gern anpumpten – eher eine Art Liebesbeweis. Aber wehe, einer trat in einem schmutzigen Kittel vor sie hin, dann blaffte sie ihn an: „Siehst ja aus wie ein Schwein! Zieh den Kittel aus!“ Am nächsten Morgen brachte sie ihn gewaschen und gebügelt wieder mit. Es galt, adrett für den Kunden zu sein. Ihr gesamter Schmuck passte in eine hohle Hand, aber die Frisur musste sitzen.

Die Kunden dankten es ihr mit lebenslänglicher Treue. Am Tag nach dem Überfall, ein Räuber hatte ihr auf dem Weg zur Bank aufgelauert, drängten sich die Käufer im Laden. Alle wollten wissen, wie es Frau Deiner geht. Da war sie sehr stolz, und der Schreck war rasch vergessen. Über ein anderes Verbrechen kam sie nicht so schnell hinweg, als sie nämlich entdecken musste, dass ein Gewalttäter allen Osterhasen im Laden die Ohren eingedrückt hatte. „Wer tut denn so was?“

Ordnung ist wichtig, das hatten die Leiden der Kindheit sie gelehrt. Ihre Vorfahren, die waren angesehene Leute gewesen in Pommern, adlige Schlossherren, was sie nicht so recht glauben mochte, selbst als sie das Schloss eines Tages mit eigenen Augen sah. Ihre Mutter gebar sie unehelich und gab sie in Pflege, schweren Herzens, denn die Stiefmutter war die Ehefrau des Vaters und Geliebten. Das Arrangement hielt nicht. Als sie neun war, wollte die Mutter sie wieder zurück, dem Mann zum Trotz, und gab sie in eine andere Familie, was Eva fast das Herz brach.

Dann kam der Krieg, ihre Mutter nahm sich das Leben. Eva wurde nach Niederschlesien verschickt und musste in der Rüstungsindustrie arbeiten. Sie hatte genug zu essen und gab den polnischen Zwangsarbeiterinnen gerne davon ab, was bei Strafe verboten war. Als dann die Russen kamen, bezeugten alle Befreiten, diese Deutsche habe nur gekocht und geputzt, nicht an den Maschinen gearbeitet. Das hat ihr das Leben gerettet.

Eva kam zurück nach Moabit, verliebte sich in Gerhard, der als einer der letzten Verwundeten aus Stalingrad ausgeflogen worden war. Er litt an erfrorenen Beinen, was er ihr nicht verriet, und er starb daran, denn er wollte sie nicht amputieren lassen.

Den zweiten Mann suchte die Tochter aus mithilfe von Onkel Tobias vom Rias, dem sie geschrieben hatte, dass sie wieder einen Papa wollte. Den bekam sie, und ein Schwesterchen dazu. Ansonsten gab es nur noch einen Mann im Leben von Eva Deiner, Rudolf Prack alias Landarzt Dr. Brock, den hat sie angehimmelt. Aber mehr war da nie. Auch als ihr zweiter Mann starb und sie mit 55 wieder Witwe war. Aber allein war sie ohnehin selten. Sie kannte ja jeden in Moabit, die meisten von klein auf. „Frau Deiner, Sie wollen mich doch jetzt nicht plötzlich siezen!“ Keine zehn Meter konnte sie die Beussel- oder die Turmstraße langgehen ohne großes Hallo.

57 Jahre wohnte sie im selben Haus, lebenslang spielte sie dieselben Zahlen im Lotto, aber eng wurde es ihr nie. Andere träumen von der großen weiten Welt – und sie? Sie fuhr einfach hin, nach New York. Ein bisschen Trickserei war nötig, erst hieß es, die Reise geht nach Mallorca, aber dann bummelte sie mit ihrer Halbschwester über den Broadway. Ansonsten verreiste sie am liebsten mit ihren Enkeln, immer gern in die Sonne, denn gefroren hatte sie genug im Leben. Wenn sie dann wieder zu Hause war, galt es, bei den Nachbarn nach dem Rechten zu sehen, „für die alten Weiber im Haus einkaufen“, wie sie das ausdrückte. Da war sie selbst schon über 70.

Den Fernsehapparat hat sie immer erst um 20 Uhr angemacht, es sei denn „Sturm der Liebe“ lief. Aber dergleichen Aufruhr duldete sie nur in der Kunst. Sie selbst war mit ihrem Leben rundum zufrieden. Was sich daran ablesen ließ, dass sie gern muffelte. „Wie kommst du denn die Treppe rauf. Du läufst ja wie ein altes Weib“, so die herzliche Begrüßung für ihre Tochter, der sie dann, wie schon seit Ewigkeiten, die Wäsche machte.

Wer anderen hilft, kennt keine Langeweile. Krankheiten hat sie sich nicht erlaubt. Als sie erfuhr, dass ihr Pflegeheim teurer werden würde, hat sie sich mit dem Sterben ein wenig beeilt. Sie wusste schon immer genau, wann es genug war. Eine kleine Person, wie gesagt, 1,45 Meter höchstens, 1,55 nach ihrer eigenen Einschätzung, aber nach Dafürhalten aller Moabiter: eine große Frau.

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