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Gerda Schimpf (1913-2014)

© Felix M. Weber

Nachruf auf Gerda Schimpf (Geb. 1913): Vom großen Glück, im Lette-Verein zu lehren

„Ich kann fotografieren, denk ich, aber nicht lehren“, sagte Gerda Schimpf in den Fünfzigerjahren und übernahm dann doch die Leitung der Fotografie beim Lette-Verein. "Es war eine meiner schönsten Zeiten", sagte sie mit 101 Jahren. Nachruf auf eine Künstlerin und Lehrerin.

"Wonnigstes Antilöpchen, es ist ja herrlich, dass Du dann auch den ganzen 1. Feiertag und auch noch die Nacht dazu bei mir sein wirst, Du Süsses, Holdes, Liebstes, Zartes.“ Neben den Zeilen steht das Antilöpchen, gezeichnet und mit Aquarellfarben ausgetuscht: Es zeigt seinen biegsamen Rücken und das runde, feste Hinterteil, das gerade noch von dem duftigen Hemdchen bedeckt wird. Das Hemdchen rutscht über die linke Schulter, der Kopf ist gesenkt und mustert den Anbeter. Der liegt auf dem Boden und hebt sein entrücktes Antlitz zu ihr empor.

Fünfhundert dieser Briefe gibt es. Einige von ihnen wurden 2013 in der Akademie der Künste in der Ausstellung „Arte postale“ gezeigt. Während der Vernissage beugt Klaus Staeck, Präsident der Akademie, seinen Kopf zu einer Dame und sagt: „So einen schönen Po hab’ ich noch nie gesehen.“ Die Dame ist klein, zierlich, sie lacht mit dem Mund, den Augen, ihrem ganzen fein geschnittenen Gesicht, sie heißt Gerda Schimpf, ist hundert und die Besitzerin des Pos.

Absender der Botschaften war Max Schwimmer, Maler aus Leipzig, der 500-mal seine Muse beschworen hatte, die 1937 nach Berlin gegangen war und die Briefe irgendwann, nachdem die Liebe in eine Sackgasse geraten war, in einen Karton gepackt und auf den Dachboden geschafft hatte. Dann, sagte Gerda Schimpf, habe sie sie schlicht vergessen.

Gerda Schimpf ist sehr alt geworden, eine drollige Alte war sie nie

Vergessen? Im Frühling 2014 gibt sie dem Lette-Verein ein Interview. Sie ist 101. Die Fragen gehen weit zurück, in die 50er, 60er, 70er Jahre, als sie dort das Fach Fotografie lehrte. Sie antwortet energisch und präzise, sie nennt Namen, als hätte sie die Personen dazu erst letzte Woche noch gesehen. Nur einmal stockt sie, es geht um einen Schüler: „Einer“, sagt sie, „er fing mit K an, ich weiß jetzt nicht ganz genau, wie er hieß.“

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Gerda Schimpf ist sehr alt geworden, eine drollige Alte war sie nie, sondern ein freier, schöner Mensch. Unabhängig und selbstbestimmt, schon zu Zeiten, da Frauen ihre Männer noch um Erlaubnis zu fragen hatten, wenn sie arbeiten wollten. Die Fotografie bedeutete ihr alles. Ursprünglich hatte sie sich in Leipzig bei einer Fotografin auf die Aufnahme am Bauhaus in Dessau vorbereiten wollen. Aber Deutschland war inzwischen zu einem Ort grausamen Stumpfsinns geworden, die Schule war seit 1933 zu. Also blieb sie in Leipzig und traf dort Max Schwimmer. Künstlerisch kam sie in der Stadt nur schleppend voran. In Berlin legte sie ihre Meisterprüfung ab und eröffnete dann, nach dem Krieg, ein eigenes Atelier.

Ernste Menschen schauen aus ernsten Schwarz-Weiß-Bildern. Keines ihrer Modelle fotografierte Gerda Schimpf in einer alltäglichen Situation, jedes Porträt zeigt die Konzentration während der Arbeit. Um auf Augenhöhe mit ihrem Gegenüber zu gelangen, stieg sie auf ein Fußbänkchen. Die genaue Position des Bänkchens war wichtig, ständig schob sie es mit dem Fuß umher und sah dabei aus, als würde sie tanzen. Die Maler Karl Hofer und Bernhard Heiliger ließen sich von ihr porträtieren, Berlins Oberbürgermeisterin Louise Schroeder, die unentwegt zum klingelnden Telefon rannte, die Bildhauerin Renée Sintenis, die zu einer Statur erstarrte, um jede Falte zu vermeiden, die Grafikerin Eva Schwimmer, mit der Max Schwimmer vor seinem Verhältnis zu Gerda verheiratet gewesen war. Mit Eva Schwimmer lebte sie später einige Jahre in dem von Hans Scharoun gebauten Haus in der Königin-Elisabeth-Straße. In dieser Wohnung war alles schwarz-weiß, die Möbel, die Teppiche, das Geschirr. An den Wänden hing Expressionistisches. In ihrem Büro stapelten sich Papiere, Bücher, Abzüge, auch von Architektur- und Industrieaufnahmen. Nur einen ausgeprägten Geschäftssinn besaß sie nie. Und so kam die Stelle beim Lette-Verein im Bayerischen Viertel gerade recht.

Der Leiter der fotografischen Abteilung dort wollte, dass sie seine Nachfolgerin wird. „Nein“, ruft sie noch 56 Jahre später, während sie erzählt, wie es dann trotzdem dazu kam. „Ich kann fotografieren, denk ich, aber nicht lehren.“ Eine andere Person wurde eingestellt, doch waren die Schüler nicht zufrieden. „Also, jetzt kam das Unglück an mich zurück.“ Sie lacht. „Und ich muss sagen, ich danke meinem Schicksal. Es war eine meiner schönsten Zeiten.“ Bis ihr die 60er Jahre einfallen: „Die schweren Jahre. Da wollten die Schüler nur diskutieren. Wenn man das Wort Erfahrung brachte, dann brüllten die: Erfahrung, was heißt denn Erfahrung?“ Sie deklamiert den Satz regelrecht. Und kommt dann auf die Digitalkameras: „Das lehne ich eigentlich ab, dieses Knips-Knips-Knips. Nein, ich bin dafür, von Anfang an zu sehen, zu gestalten und langsam zu fotografieren.“ Aber gerade dies, das Fotografieren, ging nicht mit dem Lehren zusammen: „Wenn man lehrt, stellt man die eigene Kreativität zurück.“

So brach ihre eigene künstlerische Karriere ab und kam später, nach der Lette-Zeit, auch nicht mehr in Gang. Gerda Schimpf wirkt nicht im Geringsten betrübt deswegen. Es gab anderes, Wichtiges und Schönes: die Pflege ihrer kranken Freundin Eva Schwimmer, Konzerte, Ausstellungen, Reisen. Und eine letzte Liebe. Mit 87. Jeden Morgen, um viertel vor sieben, telefonierten sie miteinander. Dann kam sie zu ihm, sie tranken einen Kaffee und lasen sich aus Büchern vor. Und auf dem Weg zurück, im Frühling, wenn die Kastanien blühten, hob sie den Kopf, roch den süßen Duft und lief leichtfüßig nach Hause.

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