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Berlin: Günter Böhl (Geb. 1926)

"Das könnte doch unser Sohn machen"

Jeden Mittwoch traf sich im Rathaus Schöneberg eine Gruppe psychisch    kranker und alter Menschen zu Kaffee und Kuchen, zum Basteln oder zum Tanzen. Günter Böhl schob sie gerne über das Parkett, einen nach dem anderen. Denn er liebte das Tanzen, und er freute sich, wenn sie sich freuten.

Ende der fünfziger Jahre hatte das Bezirksamt Schöneberg entschieden, Berufspfleger einzustellen, weil sich nicht genügend Freiwillige fanden, die sich um Menschen kümmerten, die schlecht für sich selbst sorgen konnten. Eine dieser neuen Stellen bekam Günter Böhl, der zuvor zum Verwaltungsfachangestellten ausgebildet worden war. Eine pädagogische Ausbildung hatte er nicht, dafür aber umso mehr pädagogisches Talent. Er wollte mehr sein als einer, der Antragsformulare für andere ausfüllt; er übertrug seinen Pfleglingen Aufgaben, damit sie sich nützlich fühlen konnten, ging für sie vor Gericht, wenn ein Hausbesitzer sie loswerden wollte, begleitete sie auf dem erzwungenen Weg in die Psychiatrie, brachte jedem eine Weihnachtstüte vorbei. 300 Menschen betreute er, viele von ihnen hatten keine privaten Kontakte. Deshalb gründete er die Mittwochsgruppe und organisierte gemeinsame Reisen.

Den Papierkram konnte er bei alldem kaum noch bewältigen. Die Akten nahm er mit nach Hause. Für seine Frau und die beiden Kinder blieb da manchmal wenig Zeit. Zumal er auch noch ehrenamtlich arbeitete, nämlich für den Verein „Brücke“, der psychisch Kranken half, ein möglichst normales Leben zu führen, in einer Wohngemeinschaft etwa statt in einem Heim. Für den Förderverein einer Wohneinrichtung organisierte er Benefizkonzerte im Gemeindehaus Lichtenrade. 1988 bekam er für all das ein Bundesverdienstkreuz.

Günter musste mit 17 in den Krieg. In Frankreich geriet er mit seiner Kompanie in einen Hinterhalt. Er hatte Glück, sie hissten bald die weiße Flagge. So kam er als Gefangener in die USA, wo er gut versorgt wurde und als Wäschefahrer und Baumwollpflücker arbeitete. Später begriff er, wie groß sein Glück war: Der Kampf an der Ostfront war ihm erspart geblieben. Nur die letzte Station seiner Gefangenschaft in England war hart, hier magerte er ab.

Zwei Tage nach seiner Heimkehr begegnete er Gisela Krüger, seiner künftigen Frau, zum ersten Mal. Ihr Vater und sein Vater waren Kollegen bei der Gasag. Als im Garten des Kollegen ein Baum gefällt werden musste, witterten Günters Eltern die Chance, die jungen Leute zusammenzubringen. Sie boten Hilfe an: „Das könnte doch unser Sohn machen.“ Als dann der dürre Günter auftauchte, dachte Gisela: „Was kommt denn da für’n Gespenst?“

Bald erholte er sich und wurde, groß wie er war, zu einer stattlichen Erscheinung. Als ihn seine Tanzpartnerin bei einem Ball versetzte, riet die Mutter, doch das Fräulein Krüger um Abhilfe zu bitten. Dieses Mal ging der Plan auf. Gisela war beeindruckt.

Beeindruckt hatte die beiden auch Giselas Vater mit seiner Behauptung, dass Lichtenrade der Schwarzwald Berlins sei. So sehr, dass sie entschieden, genau hier ein Haus zu bauen. Damit sie sich das leisten konnten, verdiente Günter neben Beruf und Ehrenamt noch Geld als Plakatekleber.

Auch als Rentner kam er nicht zur Ruhe. Er betreute einige seiner Pfleglinge weiter, blieb Kassenwart für verschiedene Vereine, reiste mit Frau und Kindern, ging kegeln mit den alten Kollegen. Als Gisela krank wurde, pflegte er sie, bis sie 2009 starb. Obwohl ihn ihr Tod sehr betrübte, versuchte er weiter, an das Gute zu glauben, wie er es immer getan hatte. Das gelang ihm, auch als er selbst schon sehr krank war. Seinen 85. Geburtstag feierte er noch einmal groß im Restaurant „Reisel“ in Alt-Lichtenrade wie schon so viele Male zuvor. Candida Splett

Candida Splett

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