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Berlin: Gunther Kortwich (Geb. 1928)

Andere gingen auf Reisen. Er sammelte die Geräusche der Welt

Hören Sie sich um! Machen Sie die Ohren auf und hören Sie, was Sie so alles hören an lauten und leisen und überflüssigen Geräuschen. So viel schmerzender Lärm um uns herum. Aber dann gibt es da diese Töne, die der Seele guttun, das Wehen des Windes, der rieselnde Sand am Meer oder die Melodie des „Spiel’s noch einmal, Sam“ – einer der wenigen Filme, in denen Gunther Kortwich nicht als Tonmeister mitgewirkt hat. Ein Film ist ein Bildkunstwerk, das weiß jeder, aber ein Film ist auch ein Tonkunstwerk, was wir meist erst dann wahrnehmen, wenn versehentlich ein Mikrofon ins Bild baumelt. Die großen Regisseure wissen um die Wichtigkeit des Tons, den besten hierzulande lieferte Gunther Kortwich. Fassbinder, Kluge, Stein, Wajda, Zadek, Wenders, mit allen hat er zusammengearbeitet. Die Internet Movie Database verzeichnet 173 Filme, bei denen Gunther Kortwich für den Ton verantwortlich war. Obwohl er nie ein Studium absolviert hatte.

Seine Eltern wollten, dass er Anwalt wird, oder Tänzer. Der Vater war selbst beim Film gewesen, hatte Drehbücher geschrieben, in der Herstellung gearbeitet und genug verdient, um der Familie eine kleine Pension auf Hiddensee zu kaufen, weit weg vom Krieg. Er dachte gern voraus, der Vater, ein Talent, das er seinem Sohn vererbte. Von der Mutter, einer ausgebildeten Opernsängerin, hatte Gunther die Musikalität. Sie hätte ihn am liebsten als Berufstänzer gesehen, aber dann entschied er sich doch für das Naheliegende und machte eine Bootsbauerlehre.

Als die Musterung anstand, trat ihm seine große Schwester mit einem Holzschuh kräftig auf die Zehen, so kam er um den Krieg herum. Die kleine Schwester überlebte nicht, obwohl schon Frieden war. Sie erkrankte an Diphterie, zwei Tage nach ihr starb auch die Mutter. Hiddensee war zum Fluch geworden.

Der Vater brachte die kleine Familie zurück nach Berlin. Gunther nahm alle Jobs an, die sich ergaben. Arbeitete auf dem Bau, trug Kohlen aus, schuftete in einer Schokoladenfabrik, wurde Fahrer bei den Engländern. Und bekam die Chance: „Flash Gordon“. Für die Produktion der Serie suchte die Filmgesellschaft einen Fahrer.

Gunther war zur Stelle, fuhr den Tonwagen, wurdeTonassistent, lernte von der Pike auf, wie der Ton mit den Mikrofonen geangelt und hinterher abgemischt wird. Nach sieben Jahren Lehrzeit hatte er selbst die Verantwortung für den ersten eigenen Film: „Verspätung in Marienborn“, ein Flüchtlingsdrama.

Da war er selbst längst angekommen. Er hatte früh geheiratet, Ordnung in Gefühlsdingen war ihm wichtig. Aber das Schicksal nimmt auf unsere Wünsche selten Rücksicht. Die Frau starb, da war die gemeinsame Tochter Gabi gerade fünf Jahre alt. Er heiratete erneut, aber die Ehe wurde geschieden. Die Tochter blieb ihm, sie war sein Ein und Alles. Als sie sich verliebte, in einen Bundeswehrsoldaten, ließ er sie ungern ziehen. Mit Sorge sah er, wie krankhaft dieser Mann an Gabi hing, obwohl sie längst eine neue Liebe gefunden hatte. Eines Tages der Anruf: „Er hält mich gefangen!“ Polizeieinsatz. „Öffnen Sie die Tür!“ Zwei Schüsse. Zwei Tote. Damals drehte er gerade „Inside Out“ mit Telly Savalas. Die Filmcrew hat ihn aufgefangen. Dem Film verdankte er sein Überleben. Und eine neue Liebe.

Während des Drehs zu „Tod oder Freiheit“ traf er Heide, die als Maskenbildnerin arbeitete. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick, bei ihr dauerte es eine kleine Weile, bis sie seine Fürsorglichkeit richtig verstand. Die Wende zum Glück. Der Film war ein Flop, die Ehe eine Erfolgsgeschichte, und ihre Tochter Nina wurde auch seine Tochter. Geheiratet wurde während des Drehs zu „Die große Flatter“. Gunther hatte auf der Heirat bestanden, nach all den Verlusten quälte ihn die Angst, wieder einen Menschen verlieren zu müssen. Eine Fürsorglichkeit, die sie manchmal verdross, aber ihr viele Jahre später das Leben rettete. Sie waren auf dem Weg zum Ferienhaus auf Nordstrand, die Balken für ein Bett reichten bis an den Beifahrersitz heran. „Setz dich mal lieber auf die Rückbank“, bat er sie. Immer diese Übervorsicht! Dann der Unfall. Die Balken durchbohrten den Sitz.

„In weiter Ferne, so nah“. Das Glück blieb den beiden treu. Als Gunther diesen Film mit Wim Wenders abgedreht hatte, arbeitete er noch einige Jahre in seinem eigenen Tonstudio. Andere gingen auf Reisen. Er hat die Geräusche der Welt in seinem Archiv gesammelt. Fernreisen mit dem Ohr. Andächtig saß er dann in seinem Sessel, hing verträumt den Tönen nach, ohne in den Zug steigen zu müssen. Eine akustische Eisenbahnfahrt.

Dazwischen sein eigenes Pfeifen, denn immer wenn er gute Laune hatte, pfiff er. Nur zuweilen, wenn ihn wieder eine seiner Krankheiten plagte, verging ihm die Lust daran, aber nie für lange, dann ertönte doch wieder eine seiner Lieblingsmelodien: „Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an“.

Als sich Heide um eine schöne Grabstelle bemühte, war er ein wenig reserviert. Es war nicht seine Art, die Hoffnung früh aufzugeben. Aber als er erfuhr, dass er neben dem Schauspieler Günter Meisner liegen würde, war er zufrieden. „Ach ja, neben Günter würde ich gern liegen.“ Vermutlich dachte er da schon an einen neuen Film, und an die gute Akustik da oben und die manierlichen Zuschauer, denn Gott sei Dank: Im Himmel gibt es kein Popcorn.

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