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Berlin: Hans Richter (Geb. 1927)

Als ging er mit den Kindern dahin, "wo die Gebetsbücher Henkel haben"

Hans Richter wohnte in der Crellestraße 45. Gegenüber, in der Crellestraße 8, lag die Kohlenhandlung Scholz. Dort arbeitete er. In der Crellestraße 41, im „Leuchtturm“, trank er sein Feierabendbier. Manchmal ging er auch ins „Scheffler“, Crellestraße 39.

Seit Mitte der Fünfziger war Hans Richter bei Scholz angestellt. Im Keller lagerten Rekord-Briketts aus der Lausitz neben Union-Briketts aus dem Rheinischen Kohlerevier. Union war natürlich besser als Rekord. Am schlimmsten war die halb verwitterte Bröselkohle aus der Senatsreserve, erzählte Hans, den seine Kunden nur Kohlen-Hanne nannten. Hans belieferte die „Rote Insel“ in Schöneberg, einen Arbeiterkiez mit kommunistischer Vergangenheit. Die Kästen mit den gestapelten Briketts kamen auf einen Handwagen. Dann nahm Hans den Riemen, der an der Deichsel befestigt war, und zog die Fracht durch die Straßen. Hatte er mehr als 20 Zentner geladen, musste hinten ein Kollege schieben.

Um die Kohlen ins Haus zu schaffen, legte Hans den Tragegurt über die Schulter, wickelte das Ende um das rechte Handgelenk, ging in die Knie und zog den Kasten auf seinen Rücken. Für jedes Stockwerk, das er hinaufsteigen musste, kassierte die Kohlenhandlung ein Treppengeld, davon bekam Hans seinen Anteil. Mittags ging er nach Hause, bekam sein Essen, legte sich auf die Couch in der Küche und schlief eine Dreiviertelstunde. Dann zog er wieder los.

Das Trinkgeld von seinen Kunden verwendete Hans zweckgemäß zum Vertrinken. Niemals hätte er Geld zweckentfremdet, noch dazu welches, das ihm nicht gehörte. So was machen nur Politiker, sagte Hans. Auf die war er gar nicht gut zu sprechen. Alles Banditen.

Bevor er in die Brennstoffbranche einstieg, war Hans für ein Abrissunternehmen tätig. Er stand auf einer Ruinenmauer und hieb mit dem Pickel zwischen die Backsteine, bis sie lose herunterfielen. Hans war für diese Arbeit geeignet: Als er zwölf war, hatte ein Junge von gegenüber mit einem Druckluftgewehr geschossen und zufällig sein Auge getroffen. Seitdem trug Hans ein Glasauge und war vollkommen schwindelfrei.

Ein Kollege war es nicht, fiel von der Mauer und starb. Hans wurde klar, wie gefährlich seine Arbeit ist. Er hatte inzwischen für eine Familie zu sorgen. Für keine Arbeit lohnt es sich zu sterben.

Wie elendig der Mensch zugrunde geht, hatte er im Krieg erlebt. Hans erzählte fast nie davon. Lohnt sich nicht. An der Ostfront mit dem Gewehr neben Panzern herlaufen, sich eingraben, anlegen, abdrücken. Die Jugend war futsch, sagte Hans.

Mit 20 kam er zurück aus der Gefangenschaft und hatte Hunger. Als die Kinder kamen, waren sie fünf Personen in der Einzimmerwohnung im Hinterhaus. Die Matratzen von der Couch kamen tagsüber auf die Betten, dann konnten die Kinder vom Schrank in ein wunderbar federndes Auffanglager springen. Manchmal, wenn Vater gute Laune hatte, gab es ein Wettessen mit Klößen. Das sind die schönsten Erinnerungen an diese Zeit.

Hans war ja als Vater selten abkömmlich und eher streng. Sein Lieblingswort war „parieren“. Zugänglich war er eher am Wochenende, wenn sie auf den Kreuzberg spazierten. Und natürlich zu Weihnachten. Hans ging mit den Kindern nachmittags in die Kirche, damit seine Frau den Schweinebraten mit Kruste vorbereiten konnte. Einmal maulten die Kinder, sie hätten keine Lust auf die Kirche. Hans ging es ähnlich, also gingen sie in die Kneipe, dahin, „wo die Gebetsbücher Henkel haben“, wie er zu sagen pflegte. Leider roch es in der Kneipe anders als in der Kirche, was dem Trio zu Hause einige Beschimpfungen einbrachte. Aber das bekümmerte Hans nicht. Der Umgangston in der Ehe war auch sonst rau.

Kohletragen brachte nicht viel ein. Weil die Schuhe schnell zerschlissen, besohlte Hans sie regelmäßig neu, mit Gummi aus alten Reifen. Damit sich in den Schuhen kein Schwitzwasser bilden konnte, faltete Hans seine ausgelesenen Zeitungen und legte sie hinein.

Jeden Samstag gönnte er sich Schrippen mit Leinöl und Zucker. Nachmittags nahm er ein Wannenbad im Stadtbad Schöneberg, um den Kohlenstaub aus den Poren zu spülen. Wenn mal das Radio lief zu Hause, und eine Sopranstimme erklang, verweigerte er den Kulturgenuss frontal: „Die jault ja, gib der mal ’ne Stulle.“

„Bollerich“ war er, sagen die Kinder, einer mit staubtrockenem Humor. Aber geradlinig und grundehrlich. Und treu. Als seine Frau krank wurde, übernahm er von einem Tag auf den anderen den Haushalt, bügelte und kochte, als habe er sich schon immer gewünscht, auch so was mal zu machen.

Dann wurde er selber krank. Es gab einen Verdacht auf Lungenkrebs, aber Hans schluderte mit seinen Arztterminen. Er wollte nicht so genau wissen, was mit seinem Körper gerade passierte. Auch dass er ins Heim sollte, weg aus der alten Wohnung, ignorierte er so gut es ging. Eine Tages musste er doch ins Krankenhaus, eine unaufschiebbare Operation, die sein Herz zum Stillstand brachte. Thomas Loy

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