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Berlin: Heinz Hartmaring (Geb. 1940)

Er wollte alles wieder gutmachen

Heinz Hartmaring hatte sein Leben klar strukturiert: In der Mittagspause kam er täglich nach Hause und schlief zwanzig Minuten, bevor er nach einem kurzen Orgelspiel zurück zur Arbeit ging. Dienstags ging er zum Gemeindekirchenrat und mittwochs zum Chor. Der Montagabend war heilig: Keine Krankheit und keine Geburtstagsfeier konnten ihn davon abbringen, zu seiner Selbsthilfegruppe für trockene Alkoholiker zu gehen.

Als Kind lebte Heinz mit seinen Eltern und den drei Geschwistern auf dem Gelände des Tegeler Gaswerkes, für das sein Vater arbeitete. Nach der Schule machten die Kinder Hausaufgaben, und danach erfüllten sie den vom Vater vorgegebenen und streng überwachten Plan: einkaufen, sauber machen, im Garten arbeiten. Freizeit gab es kaum. Zuwendung bekamen vor allem die kranken Geschwister: der Bruder, der an Diphterie starb, als Heinz acht war, und die tuberkulosekranke Schwester, die sechs Jahre später starb. Als er das Gymnasium besuchte, wurde auch Heinz krank. Wegen Magenschmerzen fehlte er oft in der Schule und schaffte nur einen Hauptschulabschluss.

Seine Lehrstelle als Modellbauer verlor er, weil er nach einem Verkehrsunfall zu lange krank war. Schließlich nahm ihn ein strenger Fleischer in die Lehre, der ihn von frühmorgens bis spätabends knechtete. 1962 fanden Ärzte so viele Geschwüre in Heinz’ Magen, dass sie drei Viertel davon entfernen mussten.

Endlich fand er eine gute Stelle bei einem Fleischer in Borsigwalde, lernte Ursula kennen und heiratete sie, als das erste Kind unterwegs war. Man könnte meinen, dass es nun bergauf ging. Leider aber kehrte Heinz täglich in die „Platanen Klause“ ein, um ein Bier zu trinken. Und blieb, bis es zu viele waren. Die Verantwortung als Familienvater überforderte ihn. Und er kämpfte wohl mit dem Alkohol auch gegen die Schatten seines bisherigen Lebens an.

Bis ein Arzt zu ihm sagte: „Wenn Sie so weitermachen, gebe ich Ihnen noch ein halbes Jahr.“ Da zog er die Notbremse.

Nach dem Entzug im Jüdischen Krankenhaus ging er regelmäßig zur Selbsthilfegruppe des Kreuzbundes. Fast an jedem Wochenende besuchte er Fortbildungen, lernte, wie man Selbsthilfegruppen leitet und Gespräche mit Suchtkranken führt. Bald wurde er Gruppenleiter und Ansprechpartner des Kreuzbundes in Reinickendorf.

Er wollte alles wieder gutmachen, auch die Jahre, in denen er wegen des Alkohols für seine drei Kinder kaum dagewesen war. Er führte nun regelmäßig Gespräche mit ihnen, verhandelte über Ausgehzeiten, wurde Elternsprecher und stritt mit Lehrern über die Benotung. Wenn er etwas als ungerecht empfand, konnte er es nicht auf sich beruhen lassen.

Als ungerecht empfand er es auch, dass sein Arbeitgeber, der Supermarkt „Meyer“, ihn schlecht bezahlte, obwohl er erfolgreich junge Fleischer ausbildete. Also wechselte er den Beruf, wurde Krankenpfleger in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, und arbeitete mit suchtkranken Straftätern. Oft hielt er es für falsch, wie Psychologen und Ärzte mit den Patienten umgingen. Dann legte er sich mit ihnen an. Und schuf sich als Mitglied des Personalrates bald eine verantwortungsvollere Position: Er wurde Suchtkrankenpfleger für die Angestellten der Klinik, beriet Ärzte und Pflegepersonal mit Suchtproblemen und kontrollierte, ob sie die Auflagen der Klinik einhielten.

Er war enttäuscht, als sein Arbeitsplatz weggespart wurde, doch langweilen musste er sich nicht. Nun hatte er noch mehr Zeit für seine Arbeit in Kreuzbund und Kirche, las in Gottesdiensten aus der Bibel vor und besuchte Gemeindemitglieder, die allein waren. Bis der Krebs ihm Einhalt gebot. Zur Trauerfeier war nur der engste Familienkreis geladen, aber es kamen mehr Menschen, als die Kapelle fassen konnte. Wirklich erstaunt hat das niemanden in der Familie. Sie wussten ja, wie viele Menschen Heinz unterstützt hatte und wie viele in ihm einen Vater gesehen hatten. Candida Splett

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