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Berlin: Helmut Lewin (Geb. 1920)

Er ist zwar groß, aber weder zäh noch hart. Eher dünn und schlaksig.

Wenn die anderen Kinder über den Hertzbergplatz in Neukölln toben, sitzt Helmut am Rand und liest. Am liebsten Abenteuerromane. Er verschlingt Bücher geradezu. Er saugt sie auf, will lernen. Und Abitur will er machen, unbedingt.

Dafür muss er aber erst einmal beim Vater vorstellig werden, nur dieses eine Mal. Er hat ihn noch nie gesehen. Die Eltern haben sich kurz nach seiner Geburt getrennt, der Vater zahlt noch Unterhalt. Jetzt, mit 14, soll der Junge eine Lehre machen und nicht mehr Geld kosten. Doch daraus wird nichts. Helmut wird aussortiert. Für körperliche Arbeit ist er nicht zu gebrauchen. Zu dünn, zu schwach. Zum Glück.

Also doch. Für die Schultasche nimmt seine Mutter einen Kredit auf. Weil Helmut ein guter Schüler ist, bekommt er von der Schulleitung ein Stipendium, 20 Mark im Monat. 1938 legt er sein Abitur ab – Geschichte: „sehr gut“, Religion: „genügend“, Sport: „nicht genügend“.

Eine Sportskanone ist er nie gewesen. Er ist zwar groß, aber weder zäh noch hart. Eher dünn und schlaksig. Beste Voraussetzungen für den harten Arbeitsdienst, Steine schleppen, Baracken bauen: Damit er durchhält, bekommt er Sonderrationen zu essen. Zu dünn, zu schwach. Zum Glück.

„Er kann sich dem Schutz des Führers sicher sein“, steht unter seiner Urkunde, als er 1940 die Ausbildung im Rathaus Köpenick zum höheren Beamten abschließt. Zur Einstimmung hat er den „Hauptmann von Köpenick“ geschenkt bekommen. Er liest ihn, wie alles, was ihm in die Finger kommt. Außer „Mein Kampf“.

Was der Schutz des Führers wert ist, erlebt er bald. Der Führer schickt ihn in den Krieg, auf eine Odyssee durch Europa: Zuerst als Panzergrenadier nach Jugoslawien. Dort wird er verwundet und kommt ins Lazarett nach Schwerin. Danach muss er als Funker nach Russland. Über all das redet er später kaum. Er hat viel in seine Tagebücher geschrieben, den ganzen Kriegsalltag, bis ins kleinste Detail: „Die Erde zittert ununterbrochen. Dreck spritzt hoch auf, Splitter zischen über meinen Kopf hin. Jeden Augenblick erwarte ich ein Stück Eisen im Körper zu spüren.“

Der „Iwan“ nimmt ihn gefangen. Was kommt jetzt? Sibirien? – Der „Iwan“ stuft ihn in Kategorie „Drei“ ein. Für Sibirien reicht das nicht. Zu dünn, zu schwach. Zum Glück.

Er kommt zu den Tschechen. Dort ist es im Großen und Ganzen erträglich, die böhmischen Bauern sind freundlich. Nur die Soldaten schikanieren ihn. Im Mai 1946 gelingt ihm die Flucht über Wien. Frisch entlaust, kehrt er zurück nach Berlin.

Die guten Stellen sind da schon vergeben. Zwei Jahre arbeitet er als Privatdetektiv; Leute beobachten, Nachbarn befragen, Berichte schreiben. Einmal verfolgt er einen Mann bis in den Ostteil der Stadt. Als er merkt, dass es sich um einen hohen SED-Funktionär handelt, macht er sich lieber mit der nächsten Straßenbahn aus dem Staub. Das ist nichts für ihn.

Er hat ja schon etwas Neues in Aussicht: Auf der Abendschule absolviert er die Katechetenausbildung. Er wird Religionslehrer an einem Gymnasium in Westend, das heute den Namen von Heinz Berggruen trägt. „Wir erbitten für diesen Dienst auch Gottes Segen“, steht diesmal unter seinem Zeugnis. Es hilft. Er hat einen Beruf gefunden, der nicht nur Pflicht ist, sondern ein echtes Anliegen. Helmut Lewin wird Kreiskatechet, sitzt im Synodalausschuss und ist für den evangelischen Religionsunterricht an den Berliner Schulen zuständig. Seine Schüler lernen ihn vor allem als streng, unbestechlich und kompetent kennen. Als Vorbild. Das ist die eine Seite.

Seine Frau lernt zuerst die andere kennen, den Kasper. Bei einem Katechetentreffen in Charlottenburg singt er als Leierkastenmann selbstgedichtete Moritaten. „Ob der wirklich so blöd spielen kann oder so blöd ist?“, fragt sie ihre Freundin auf dem Rückweg. Lachen muss sie trotzdem. 1961 zieht sie mit ihm nach Zehlendorf in die Halleluja- Siedlung. Als ihr erstes Kind geboren wird, ist er schon 42.

Dass er so spät erst Vater wird, hat seine Vorteile: Um antiautoritär zu erziehen, ist er anno ’68 schon zu alt; für Zucht und Ordnung ist er zu weise. „Er hat sich immer mit uns mit entwickelt“, sagt seine Tochter. Auf Friedensdemos mitzugehen, ist für ihn selbstverständlich. Er war mal an der Front, also ist er gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr.

Mit 75 Jahren hört er bei der Synode auf. Das Herz macht nicht mehr so mit. Mit 81 wird er Großvater. Er liest viel vor, stundenlang, bis er heiser ist. Für seine kleine Enkelin ist er immer da. Und er kümmert sich um seine Frau. Sie erkrankt an Leukämie und sitzt im Rollstuhl. Als dann auch noch der Edeka gegenüber dichtmacht, ziehen sie um, zur Tochter nach Tempelhof. Nach 47 Jahren in Zehlendorf.

Helmut pflegt seine Frau bis zum Ende. Nach ihrem Tod 2009 kommt er selbst nicht mehr richtig auf die Beine. Er stürzt. Mit Rippenbrüchen muss er ins Krankenhaus. Das Atmen schmerzt, und alleine essen kann er auch nicht. Er kriegt den Arm einfach nicht über den Klapptisch an seinem Bett. Keiner im Krankenhaus füttert ihn. Das Essen wird einfach weggeräumt – wenn er nicht isst, wird er wohl keinen Hunger haben. Erst, als seine Familie sich beschwert, wird er auf die Intensivstation verlegt. Da ist er schon zu dünn, zu schwach. Jan Mohnhaupt

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