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Berlin: Ingeborg Wallström (Geb. 1924)

Jahrzehntelang hatte sie ihr Künstlerleben aufgeschoben

Atelier? Sie hätte abgewinkt: Es ist ein Zimmer und in diesem Zimmer male ich.

Genau genommen war es das Kinderzimmer ihres Jüngsten, der gerade ausgezogen war. Aber es war, in aller Deutlichkeit, auch ein Atelier, die Werkstatt eines Künstlers. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, dessen Platte unter dem bunten Durcheinander kaum zu sehen war. Es gab Gefäße voller Pinsel. Es gab Näpfe in jeder Größe, in denen die Reste getrockneter Farbe schimmerten. Halb ausdrückte Tuben lagen neben zierlichen Tiegeln, Pastellkreiden zwischen Aquarellkästen. In den Ecken lehnten eingerollte Leinwände und Skizzen auf Papier. In Regalen stapelten sich Kunstbücher, zig Bände über Käthe Kollwitz, die sie vor allen anderen verehrte.

Wo aber hatte sie gemalt, bevor ihre Kinder ausgezogen waren? Nirgends. Jahrzehntelang hatte sie ihr Künstlerleben aufgeschoben. War ganz und gar für ihre Kinder da. Denn in ihrer eigenen Kindheit gab es eine Leerstelle, einen blinden Fleck. Ihre Mutter hatte sie, zweieinhalbjährig, in ein Heim gegeben. Nun galt es, jeden Schatten eines auch nur vagen Unglücks von ihren eigenen Kindern fernzuhalten. Was wäre aus ihr geworden, fragte sie sich, wenn damals nicht eine Hebamme das wund gelegene Kind in dem Magdeburger Kinderheim gefunden und an ein Berliner Ehepaar vermittelt hätte?

Die Mitudis, der Mann war ein griechischer Zigarrenfabrikbesitzer, holten sie nach Wedding, kauften ihr ein weiches Bett und schöne Spiele, schickten sie in die Schule und unternahmen Ausflüge ins Grüne. Doch interessierte Herr Mitudis sich zu intensiv für andere Damen, und so reichte Frau Mitudis die Scheidung ein. Ingeborg trug nun, noch nicht einmal volljährig, ihren dritten Namen.

Den vierten erhielt sie 1950, nach einem entschlossenen „Ja“ zu Eberhard Wallström. In den Jahren dazwischen hatte sie an der Meisterschule in Charlottenburg Grafikdesign studiert, hatte die Stadt brennen sehen, hatte, weil sie nicht wollte, was er wollte, den Gewehrkolben eines russischen Soldaten gegen den Kopf bekommen und dann, in den folgenden Aufräum- und Aufbaujahren einen Möbeltischler, der die Fenster in ihrer Wohnung reparierte, bei der Arbeit beobachtet.

Der Tischler war zwar nicht mehr der Jüngste, aber er gefiel ihr. Es machte nichts, dass er schon einmal verheiratet gewesen war. Er hatte die Frau ja nicht sitzen lassen. Sie war zwischen den Trümmern auf eine Mine getreten, und nun würden sie sich gemeinsam um seine beiden Kinder kümmern. Er hatte Angst, das sah sie, Angst vor den Granaten, auch wenn sie längst nicht mehr neben ihm einschlugen. Sie hörte seine Schreie und hing für ihn dunkle Decken vor die Fenster. Und sie versuchte, das Leben bunt zu machen. Der Trubel zu Hause nahm zu mit den Jahren, mit den Kindern. Sie schob ihr Künstlerleben vor sich her, einerseits. Andererseits war sie froh, so wie es war. Kein Tag verging, ohne dass gemalt, ausgeschnitten, geklebt wurde, ohne dass man sich beim „Mensch ärgere Dich nicht“ rausschmiss. Ingeborg schaffte einen kleinen Emaille-Ofen an und eine Strickmaschine, an der sie am Abend saß, wenn die Kinder in den Betten lagen und im Rhythmus des leisen Ratterns einschliefen. Sie selbst schien nie müde zu werden, arbeitete den ganzen Tag, zuerst bei der Firma Schwartzkopf und später als Arzthelferin, pflegte ihren kranken Mann, wusch, kaufte ein, kochte und legte von dem bisschen Geld, das sie hatten, ein paar Scheine für die herrlichsten Urlaube beiseite.

Doch dann und wann bemerkte sie den Kindheitsschatten, wie aus dem Augenwinkel, versuchte, über ihn hinwegzusehen, was ihr immer weniger gelang, je älter sie wurde. Die Mutter, die sie weggegeben hatte, soll schön gewesen sein, mit einer schönen Stimme. Hatte sie die Neigung zu allem Künstlerischen von ihr? Nie, in all den Jahrzehnten, war sie erloschen, die Idee, eines Tages die Pinsel und Farben vorzuholen, nicht nur als Hobby.

Sie war erstaunlich, die Entwicklung, die sie nahm: Musste man die ersten Bilder noch einer konventionellen, gegenständlichen Schule zurechnen, so experimentierte sie im Lauf der Zeit immer mehr, wandte sich abstrakten Formen zu, erkundete das Spiel von Licht und Schatten und entwickelte Collagetechniken. Sie lernte bei dem Berliner Maler Rolf Fässer und stellte in der Otto-Nagel-Galerie aus.

2010 aber kam der Moment, in dem sie das Leben, allein in ihrer Wohnung, zu sehr erschöpfte. Gemeinsam mit den Kindern fuhr sie von Heim zu Heim. Ihre erste Frage lautete stets: „Werden hier Kunstkurse angeboten?“ Und als man diese im „Domicil“ in der Müllerstraße mit Ja beantwortete, packte sie ihre Pinsel und Tuben zusammen und bezog ein Zimmer. Meist sah man sie mit einem Block auf dem Schoß, leicht und sicher Köpfe und Menschengruppen skizzieren.

Doch die Striche gelangen ihr immer weniger leicht, immer weniger sicher. Und eines Tages legte sie den Stift ganz aus der Hand.

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