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Berlin: Jürgen Raschert (Geb. 1937)

Was wirklich hilft, ist Liebe. Die Liebe, die fehlte

Das eine ist die Karriere, das andere das Leben. Seine Karriere verlief geradlinig, sein Leben oft im Torkelgang. Auch wenn man ihm das nicht immer ansah. Was man ihm ansah, immer, war die Krankheit. Psoriasis.

Die Krankheit ist die Hölle. Für Außenstehende schlimm anzusehen, für die Betroffenen kaum auszuhalten. Das Jucken, die Schuppen, die Schmerzen, vor allem: die Blicke der anderen. Normalerweise erneuert sich die Haut eines Menschen im Zeitraum eines knappen Monats, bei Menschen mit Schuppenflechte innerhalb einer knappen Woche. Jürgen Raschert war lebenslang wund, am ganzen Körper. Durch Kratzen fallen silbrig-weiße Schuppen ab. Beim Weiterkratzen lässt sich ein dünnes Häutchen ablösen, es treten punktartige Blutungen auf. Blutiger Tau heißt es im Fachjargon.

Was hilft? Vieles hilft, vieles kann helfen, gesunde Ernährung, trockene Luft, emotionale Balance. Aber Heilung ist selten. Und nicht willentlich herbeiführbar. Was wirklich hilft, ist Alkohol. Ein Trugschluss, aber ein gut nachvollziehbarer. Was wirklich hilft, ist Liebe. Die Liebe, die fehlte. Sie fehlte nicht in seiner Jugend. Der Vater, unter den Nazis Bürgermeister von Reinickendorf, wurde unmittelbar nach dem Krieg von den Sowjets interniert und kam nicht zurück. Die Mutter sorgte allein für die vier Kinder. Noch im hohen Alter ging sie mit Jürgen gern aus, ins Tegernseer Tönnchen, gut essen, gut trinken.

Mit Mitte 20 heiratete Jürgen Raschert eine Klassenkameradin. Sie träumten von einer Familie, wägten die Risiken der genetischen Belastung. Da hörten sie von einer Schülerin, die aus dem Fenster gesprungen war, weil sie die Krankheit nicht mehr aushielt. Sie gaben den Gedanken an ein Kind auf, und bald darauf auch die Ehe.

Jürgen Raschert war ein ungemein kluger Mann. Er hätte in vielen Berufen Karriere machen können. Dass er es ausgerechnet im Fach Erziehungswissenschaften tat und Universitätslehrer wurde, war ein Zufall. Ein glücklicher Zufall für seine Studenten. Mit Schülern hingegen hatte er nur selten Kontakt. Das merkte man seinen Schriften zuweilen an. Eins seiner großen Anliegen: die Gesamtschule. Ein pädagogisches Projekt, in das viele ihr Herzblut einfließen ließen, aber auch ein ideologisches Projekt in den siebziger Jahren. Ist es wichtiger, Sätze wie „Die Maid ist zart besaitet“ korrekt zu Papier bringen zu können oder in einem angstfreien Lernklima heranzuwachsen? Beides, würde man heute sagen, damals stritt man darüber. Das knappe Resultat des langen Methodenstreits: Gesamtschulen mit gutem Direktor sind gute Gesamtschulen, Gesamtschulen mit schlechtem Direktor sind schlechte Gesamtschulen.

Jürgen Raschert war ein begeisternder Hochschullehrer – dem sein Einsatz nicht sonderlich gedankt wurde. Als er seinen endgültigen Abschied nahm, kommentierte der Dekan nur: „Ach, das ist gut, wir brauchen Ihr Zimmer.“

Was ihm blieb, war die Musik, die er über alles liebte. Musik war überlebenswichtig, er hat sie sinnlich wahrgenommen, körperlich aufgesogen. Das Blut stieg ihm zu Kopf, selbst bei Bach. Natürlich bei Mozart, Haydn, Brahms.

Er saß in seiner Wohnung, ein Museum der siebziger Jahre, Asko Sessel, Stil finnische Birke, im Teppich vor ihm ein Loch, das er mit seinem Absatz geschlagen hatte, immer im Takt der Musik. An der Wand Reproduktionen von Corinth, Walchensee, die Gegend mochte er als leidenschaftlicher Wanderer. Ansonsten kaufte er nach der Scheidung nichts mehr dazu. Nur die Plattensammlung wuchs. Sie war ihm wichtiger als alles andere. Sie sollte auch nach seinem Tod nicht auseinandergerissen werden. Das war sein ausdrücklicher Wille.

Die Putzfrau fand ihn. Da lag er schon zwei Tage bewusstlos in der Wohnung. Er kam in die Klinik und wachte nicht mehr auf. Das war sein Leben. Man kann sagen, ein erfolgreiches Leben. Aber eigentlich zu wenig für einen Mann wie ihn. Gregor Eisenhauer

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