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Berlin: Klaus Herm (Geb. 1925)

Irgendwann sagte Beckett zu ihm: „Ich heiße Sam“

Der Bahnhof hat ihn gerettet. Als er mit seiner Cousine einmal auf einem Spaziergang im Frankfurter Stadtwald unterwegs ist, springen zwei Männer aus dem Gebüsch, um sie zu überfallen. Und das Einzige, was ihm in diesem Moment einfällt, ist diese harmlose Frage: „Entschuldigung, wo bitte geht’s denn zum Bahnhof?“ Völlig perplex zeigen die beiden Wegelagerer ihnen den Weg dorthin.

Für Klaus Herm ist der Bahnhof ein Schicksalsort. Seine Eltern haben sich auf einem Bahnhof kennengelernt, in Wilhelmshaven. Klaus liebt Bahnhöfe. Und Züge. Als Junge fährt er oft zu seinen Großeltern von Berlin nach Eberswalde. Seine Eltern dürfen ihn nur zum Zug bringen. Wo er aussteigen muss, weiß er ja, es steht auf einem Schild, das um seinen Hals hängt. „Na dann tschüss“, sagt er zum Abschied.

Beide Eltern sind Schauspieler. Auch er will Schauspieler werden, aber er spricht ihnen nie seine Texte vor. Auch das will er ganz allein durchziehen. Bei seiner ersten Aufführung in der Schule des Deutschen Theaters ist er so aufgeregt, dass er seinen Text vergisst: „Ach Gott, ach Gott“, stammelt er nur. Im Publikum sitzt die Schauspiellehrerin Agnes Windeck, später als deutsche Synchronstimme von Miss Marple bekannt. Als sie den hilflosen Jungen dort oben sieht, denkt sie sofort: „Den nehm’ ich!“

Beim Auswendiglernen ist er sorgfältig, denn was anderen Kollegen zufliegt, muss er sich hart erarbeiten. Er braucht lange, um Texte zu lernen. Aber wenn er sie gelernt hat, vergisst er sie so schnell nicht wieder. Texte für Fernsehrollen kann er noch vortragen, wenn die Dreharbeiten schon längst vorbei sind.

In zahlreichen Fernsehserien wie „Derrick“ und „Tatort“ spielt er mit. Seine Rollen sind mal schwierige, grantige Typen, mal stille Außenseiter, meist die kleineren Räder im System. Ein Diener, auf der Bühne und im wahren Leben, ein Kümmerer ist er: Wenn seine Lehrerin Agnes Windeck verreist, versorgt er ihren Kater, auch wenn wegen der Allergie seine Augen dabei tränen.

In „Warten auf Godot“ am Berliner Schillertheater soll er den Knecht Lucky neben Horst Bollmann, Stefan Wigger und Martin Held spielen, inszeniert von Samuel Beckett selbst. Doch noch bevor im Herbst 1974 die Proben beginnen, will Beckett alles hinschmeißen. Martin Held fällt für die Rolle des Pozzo, Luckys Herr, aus. „Das wär’s dann also“, sagt Beckett. – „Nein, Herr Beckett, das geht nicht. Wir finden eine Lösung“, sagt Klaus Herm. Sie machen weiter, mit Carl Raddatz als neuem Pozzo. Im März 1975 ist die Premiere. Nach Berlin spielen sie auch in London, Dublin, Paris, New York und Tel Aviv. Horst Bollmann und Stefan Wigger, seine Schauspielkollegen und Freunde, spielen Klaus Herm manchen Streich. Bei einer Aufführung füllen sie den Koffer, den Lucky tragen muss, mit Steinen. Und wenn Besucher Fragen zu dem hermetischen Stück haben, sagen sie: „Der Herr Herm kann Ihnen das erklären.“

Gutmütig wie er ist, lässt er das alles über sich ergehen – und spielt mit Beckett Schach, im Atelier der Akademie der Künste, wo Beckett wohnt, wenn er in Berlin ist. In einem Interview mit der „Zeit“, 30 Jahre später, hat Klaus Herm sich daran erinnert, wie Beckett dort gesessen hat, grübelnd über das Brett gebeugt. „Und ich dachte: Vergiss nie dieses Bild. Dieser geniale Mann denkt gerade über deinen Schachzug nach.“ Und Beckett, der alles Eitle hasst, muss diesen unspektakulären, bescheidenen Mann geschätzt haben. Irgendwann sagte Beckett zu Herm: „Ich heiße Sam.“

Lucky ist wohl die Rolle seines Lebens gewesen. Bekannter ist er jedoch mit seiner Stimme geworden. Als Assistent Hutchinson Hatch in der Hörspielreihe „Professor van Dusen“ und als Mitglied der Hörfunkkomödie „Pension Spreewitz“ hat er eine treue Fangemeinde.

Astrid hat sich zuerst in seine Stimme verliebt. In einem Hörspiel von John Steinbeck hat sie sie das erste Mal gehört, und sich später den Wecker immer auf sieben Uhr gestellt, damit sie Klaus in der Rias-Sendung „Jugend spricht zur Jugend“ nicht verpasst. Nach eineinhalb Jahren Fernbeziehung, sie arbeitet als Grafikerin in Bremen, sagt Klaus zu ihr: „Wollen wir nicht heiraten?“

Das „Wir“ hat er erst lernen müssen. „Ich gehe spazieren“, sagte er anfangs und meinte das auch so. Am liebsten ging er die Dinge allein an, wie schon als Kind. Eine Frau, die klammert, hätte er nicht gewollt. Vor zwei Jahren ist er zum letzten Mal allein losgezogen, mit dem Zug in Richtung Kindheit. Als er abends nach Hause kommt, fragt Astrid: „Wo warst du denn?“ – „In Eberswalde“, antwortet Klaus, „aber ich habe es nicht gefunden.“

Seine Stimme ist noch da, rau ertönt sie auf dem Anrufbeantworter nach dem sechsten Klingeln. „Das ist der Anschluss von Astrid und Klaus Herm“, sagt er mit leicht schnodderigem Berliner Einschlag. „Im Augenblick sind wir nicht zu erreichen, wir freuen uns aber, wenn Sie uns nach dem Piepton eine Nachricht aufsprechen. Vielen Dank!“

Sie hat sie nicht gelöscht, seine letzten beiden „wir“.

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