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Marianne Schmidt im Alter von 26

© privat

Nachruf auf Marianne Schmidt (Geb. 1922): Dann lieber träumen

Ein Mann sollte sie hinausholen in die weite Welt, ins Abenteuer. Leider war's der falsche. Ein Leben zwischen Sehnsucht, süßem Leben und Hausfrauendasein.

"Isch soh us wie enne Film-Stah," pflegte Marianne zu sagen. So unglamourös ihr rheinischer Dialekt auch klang, Recht hatte sie. Ein altes Foto zeigt ein ebenmäßiges, von seidig-braunen Locken gerahmtes Gesicht, kristallene Augen, der Blick sehnsüchtig in die Ferne gerichtet. Dieser Blick blieb ihr, auch als das Haar längst grau geworden war.

„Du kommst aus einer besonderen Familie“, hatte man sie als Kind gelehrt. „Unsereins ist gebildet.“ Marianne lernte, dass Bildung den Menschen erhöht, zugleich aber auch, dass ihr selbst diese Erhöhung verwehrt bleiben müsse: Anders als ihre Geschwister durfte die Lehrertochter nicht studieren, kriegsbedingt und weil die Eltern sie im Haushalt brauchten. Was blieb Marianne, als auf einen Retter zu hoffen, auf einen Helden, der sie herausführen würde aus der dörflichen und familiären Enge?

Ihre Hochzeit katapultierte sie immerhin bis nach Hannover. Froh registrierte Marianne die Kilometer zwischen dem neuen Heim und ihrer alten Aschenputtel-Rolle. Doch nicht lange, und ihr Held war auf den Schlachtfeldern der Nazis einen sinnlosen Heldentod gestorben. Und Marianne musste zurück zur Familie.

Der nächste, der sich anbot, sie zu erlösen, war der Sohn eines Berliner Bar-Betreibers und im Rheinland unterwegs auf den Spuren seines Getränkehändlers. Je heftiger die studierte Verwandtschaft den Kopf schüttelte, umso heftiger verliebte sich Marianne. Dieser hier würde sie endgültig forttragen in die Welt, ins Abenteuer!

Werners Klappe war groß, seine Komplimente waren rau, und wie Marianne konnte auch er hervorragend tanzen. Die Bars rund um den Kurfürstendamm wurden zur Bühne des schönen, weil ungleichen Paares. Den größten Applaus erhielt meist Marianne: So schlank, so hübsch, so stilsicher gekleidet, so herzlich und lustig ihre Art.

Der Mann war unterwegs, sie kehrte das Heim

Nicht zu fein war sie sich, in der Küche mit anzupacken. Küche hatte sie gelernt, hier aber wurde sie, anders als daheim, dafür bezahlt und geachtet.

Es schien, als wäre er geglückt, der Eintritt in die weite Welt. Bis die Söhne geboren wurden. Da erkannte Marianne, dass ihr neues Leben in Wahrheit Werners Leben war, und sie auserkoren, darin die altbekannte Rolle einzunehmen.

Lediglich die Kulissen hatten sich verschoben. Aus dem rheinischen Häuschen war ein Bungalow in Grunewald geworden, Werner machte inzwischen in Spielhallen. Das hieß: Der Mann war irgendwo draußen, unterwegs in der Welt, Marianne hatte das Heim zu kehren.

Ein drittes Kind wurde geboren, ein Mädchen diesmal. Je unglücklicher Marianne, desto ausgiebiger flüchtete Werner, desto ärgerlicher Marianne. Zu sehr hatte sie ihre Rolle verinnerlicht, als dass sie ihr Schimpfen je durch Handeln ersetzt hätte. Kam Werner wieder viel zu spät nach Hause, schrie sie ihn an und servierte ihm anschließend das warm gehaltene Essen.

Nur wenn sie tanzen gingen, Bars und Bälle besuchten, waren sie wieder das temperamentvolle, schillernde Paar von einst.

Und immer noch freute Marianne sich über die Gesichter der Verwandten, wenn diese die Schlitten erblickten, in denen Werner und sie vorgefahren kamen, ganz ohne Abitur und Doktor.

Leise aber begann sie sich zu fragen, ob die Sippe nicht doch Recht gehabt hatte mit ihrer Warnung vor Werner.

Erst als ihr keine Wahl mehr blieb, ließ sie sich scheiden

Als gäbe es nur Werner oder die Familie. Zerrissen war sie zwischen diesen Polen, wie auch zwischen ihrer Lebenslust und dem Alltag ihres Hausfrauenlebens. Mal sang sie lauthals Zarah Leander, pfiff vor sich hin, herzte die Kinder, kochte die leckersten Mahlzeiten. Dann wurde sie wortkarg, achtete streng auf Ordnung und Reinlichkeit, fand überhaupt keine Worte für ihr Leid oder viel zu laute.

Erst als Werners Sprüchen, „Weib, mach Futter!“, auch der letzte Rest von Ironie abhanden gekommen war, erst als ihr keine Wahl mehr blieb, entschloss sie sich zur Scheidung. Und wieder ging es zurück zur Familie ins Rheinland. Manchmal kamen ihre Söhne zu Besuch. Dann wurde das Verdeck des Autos geöffnet, und für ein paar Stunden verwandelte Marianne sich wieder in die lebenslustige Frau der frühen Jahre in Berlin.

Der Ehe weinte sie keine Träne nach, eine neue Liebe wagte sie dennoch nicht. Warum noch einmal sich enttäuschen lassen? Dann lieber träumen. Oft fand die Tochter ihre Mutter mit diesem in die Ferne gerichteten, sehnsüchtigen Blick. „Hätte ich eine Hilfslehrerausbildung machen sollen damals?“, hörte sie sie laut denken. „Oder einen Abschluss an der Kunstgewerbeschule?“ So durchsuchte Marianne ihr Leben nach verpassten Gelegenheiten, träumte sich fort.

Und regierte in ihrem Reich, dem einzigen, das sie hatte, der Wohnung, umso bestimmter: Schuhe hierhin. Jacke dorthin. Kaffee trinken, jetzt.

Mit 77 beschloss sie, wieder nach Berlin zu ziehen. Sie hatte die Stadt doch gemocht, die Größe, das Wissen um die Möglichkeiten, hatte doch herausgewollt aus der Enge. In ihrem letzten Jahr stand Marianne vor einem Bild der Tochter. Ganz selbstverständlich ging sie davon aus, dass dies ein Mann gefertigt habe - vielleicht, weil es ihr gefiel. War ihr selbst das Zeichnen nur Hobby geblieben, die Tochter hatte es zum Beruf gemacht. Und als Marianne das Bild des vermeintlichen Mannes lobte, lobte sie die Verwirklichung der eigenen Träume im Leben der Jüngeren.

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