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Berlin: Reinhard Hildebrand (Geb. 1951)

„Vater, mach die Musik leiser, wir müssen lernen!“

Vierundsechzig Felder hat das Schachbrett; vierundsechzig Felder reichen aus für unzählige Spielzüge, Überraschungen, gemeine Finten, weitsichtige Planungen. Gern erzählte Reinhard die Legende, dass der Erfinder des Schachspiels bei seinem König einen Wunsch frei hatte. Er wünschte sich, dass man das Schachbrett mit Reiskörnern füllen möge, und zwar so, dass ein Korn auf das erste Feld gelegt wird, zwei auf das zweite, vier auf das dritte und so weiter. Also immer doppelt so viele auf das jeweils nächste. Der König war erfreut über den bescheidenen Wunsch des Erfinders und willigte ein. Doch als er seinen Kämmerer schickte, um das Versprechen einzulösen, merkten sie bald, dass die Summe der Reiskörner so groß wurde, dass er dem Erfinder faktisch sein ganzes Königreich vermacht hatte.

Reinhard war nicht nur ein leidenschaftlicher Schachspieler, er mochte das ganze Drum und Dran. Das Aufstellen der Figuren, die Stille zwischen den Zügen, jede ungewöhnliche Zugfolge. Sein schwierigster Gegner war die Uhr, er reizte seine Zeit aus bis auf die letzte Sekunde. Schach ist ein ruhiges Spiel, das passte zu ihm.

Auch sonst spielte Reinhard gern. Der Tag vor der Abreise in den Urlaub war für die Familie ein Gräuel, wenn Reinhard all die Kleinigkeiten einpackte, die für ihn zu einem perfekten Urlaub gehörten, und den Stapel Spiele zusammenstellte, ohne den ein Urlaub öde werden würde. Über Jahrzehnte spielte er regelmäßig in seiner Malefizrunde nach verschärften Regeln und auf einem eigens gefertigten Brett, denn es gab fünf Spieler; bei der Standardversion sind es höchstens vier.

Der Konfirmationsspruch von Reinhard erwies sich als gut gewählt: „Alle Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch.“ Er konnte das, seine Sorgen loslassen, entspannen, sein Leben gestalten, ohne dabei in Hast zu geraten. Reinhard achtete die Kleinigkeiten des Lebens, den gut zubereiteten Kaffee, Rituale in der Küche und am Esstisch. Er richtete sich die Leseecke ein, legte eine Platte von Frank Zappa auf und war zufrieden mit sich und der Welt. Es kam vor, dass seine Kinder durch die Wohnung brüllen mussten: „Vater, mach die Musik leiser, wir müssen lernen!“ An der Wand seines Zimmers hing ein Bumerang. Auch der passte zu ihm. Man wirft das Holz, wartet, und es landet wieder in der Hand. Man braucht etwas Geschick und die nötige Gelassenheit, nichts wäre törichter, als dem Holz hinterherzulaufen.

In seinem Job kümmerte sich Reinhard um Jugendliche, die dringend der Hilfe bedurften. Auch da hatte er einen eigenwilligen Ansatz. Er nervte nicht mit voreiligen Interventionen und erreichte gerade so die jungen Leute. Erst wenn der Schnupfen da war und sie Trost bei ihm suchten, setzte er ein mit seiner Belehrung über die richtige Kleidung. Vorher hatte es ohnehin keinen Zweck. Nicht all seine Kollegen teilten diesen gelassenen, aber erfahrungsgestützten Ansatz. Wer schneller ans Ziel wollte, hielt es selten lange aus in diesem anstrengenden Job. Reinhard blieb für seine Jungs da. Als er starb, traf sie sein Tod so schwer wie der eines nahen Angehörigen.

Reinhard ließ alle ratlos zurück. Hier starb kein gestresster Mensch, der für seine ungesunde Lebensweise zahlen musste, es gab keine Krankheit, gegen die er den Kampf verlor, es gibt nichts, was seinen frühen Tod erklären konnte. Er wurde an einem Samstagmorgen tot in seinem Bett gefunden; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, einfach so.

Vierundsechzig ist die perfekte Zahl, hatte Reinhard gesagt, da passt eigentlich alles rein. Er wurde vierundsechzig Jahre alt.

Jörg Machel

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