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Berlin: Renate Kania (Geb. 1937)

Wenn es Streit gibt zwischen Stiefvater und Tochter, sitzt sie in der Küche

Auf ihrer Beerdigung kommt es zu einer Versöhnungsgeste, auf die Renate immer gehofft hatte. Ihre Tochter, die Punk-Veteranin Ratten-Jenny, hält ihrem Stiefvater die Hand, stützt ihn am Grab der Mutter, der Familie, Liebe und Harmonie über alles gingen.

Erst in den letzten drei Lebensjahren war sie ganz für sich – allein, aber glücklich. Und blickte auf ein Leben zurück, das andere als unglücklich bezeichnen würden. Aber vielleicht war es doch schön.

Renate, ein Kriegskind aus Berlin, wird mit ihrer Mutter und den beiden Brüdern 1943 in ein Dorf im Riesengebirge evakuiert. Der geliebte Vater, einst gefeierter Operettenstar, ist an der Front. Die zwei Jahre ohne Bombenalarm, Hunger und Zerstörung erklärt sie später zu ihrer schönsten Zeit überhaupt.

Zurück in Berlin, findet das Leben in Ruinenlandschaften statt. Renate macht eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin. Sie liest sich durch die Bibliothek des Vaters, vieles versteht sie noch nicht, vieles wird sie später nochmal lesen. Die Literatur ist ihr ein Leben lang das Versprechen einer Welt, die ganz anders ist als ihre. Sie ist 16, als der Vater an einer Lungenentzündung stirbt. Ein Schock.

Und da kommt Dietrich. Geschickt nutzt der Dreißigjährige ihre Trauer, um die Gefühle auf sich zu lenken. Die 1954 geschlossene Ehe gerät zum Fiasko, sechs Jahre mit einem gewalttätigen Alkoholiker, zwei Kinder, eins davon behindert. Nie ist Geld da. Nach der Trennung verliert der Ex-Mann an den Kindern rasch das Interesse. Treffen, bei denen es um das Sorgerecht geht, finden nur in Kneipen statt. Die von Scham geplagten Schwiegereltern helfen, wo sie können, aber es regiert die nackte Not. Auf Anraten des Jugendamtes gibt Renate den Sohn, der pyromanische Tendenzen zeigt, in Betreuung. Jetzt ist nur noch Jenny da.

Und es taucht Erhard auf, sechs Jahre jünger als Renate, ein ehemaliger Spielkamerad ihrer Brüder. Die beiden heiraten. Und das innige Mutter- Tochter-Verhältnis kühlt sich ab. Als Jenny innerhalb eines Jahres zwei Halbgeschwister bekommt, Daniel und Esther, bricht sie aus. Besetzte Häuser, Drogen. Per Funk wird der Stiefvater, der bei der Polizei arbeitet, von seinen Kollegen informiert, auf welcher Wache er Jenny abholen soll. Die anschließenden Auseinandersetzungen verfolgt Renate aus der Küche. Sie mischt sich nicht ein. Jenny fühlt sich mehr geduldet als geliebt.

Sie zieht zunächst in eine betreute Wohngemeinschaft und Ende der Siebziger nach London. Da feiern die ersten Punks ihren Protest gegen das Establishment. Gefärbter Irokese, zerrissene Netzstrümpfe, Lederjacke, eine zahme Ratte auf der Schulter. Ratten-Jenny wird Stilikone und Postkartenmotiv. Bei einem Berlinbesuch attackiert sie Martin Kippenberger, der Anfang der Achtziger das SO 36 in Kreuzberg betreibt und die Bierpreise erhöhen will. „Dialog mit der Jugend“ heißt das Bild, auf dem sich der Künstler als Opfer der Attacke inszeniert.

Mutter und Tochter erhalten den Kontakt aufrecht. Sie treffen sich, wenn der Stiefvater Schichtdienst hat. Die Halbgeschwister werden die seltenen Auftritte des Paradiesvogels nie vergessen.

Für Renate gilt: Alle Kraft der Restfamilie. Daniel und Esther haben Freiheiten, die Jenny sich abtrotzen musste. Daniel geht den scheinbar geraden Weg: Abitur und Studium der Mathematik und Philosophie an der TU. Wohnt zu Hause, bis er 25 ist, schätzt die Geborgenheit. Esther kommt in der Pubertät ins Schlingern, falsche Freunde, Jugendgangs. Wieder muss Erhard eine Tochter von den Polizeiwachen abholen.

Wieder ist Renate sprach- und hilflos. Sie sucht nach Wegen, um ihre schwankenden Gefühle in ein Gleichgewicht zu bringen. Andere würden Hobbys dazu sagen. Sie lernt Gitarre spielen, versucht sich als Malerin, nicht ohne Erfolg. Abstrakt, selten gegenständlich, farbige Labyrinthe. Aus ihnen führt immer ein Weg heraus. Anders als im Leben. Die Bilder zu verkaufen, fällt ihr schwer, es sind doch ihre Seelen-Kinder. Sie knüpft Kontakte zur jüdischen Gemeinde, sie lernt Jiddisch, immer beim selben Dozenten. Tritt auf der Stelle.

Und die Kinder? Ihr Sohn aus erster Ehe stirbt vor ihr. Jenny bleibt für immer Punk, Daniel studiert seit zwei Jahrzehnten. Esther macht sie 1994 zur Oma, trennt sich sofort vom Kindsvater und heiratet einen Rechten. Auch hier nur sporadischer Kontakt.

Renate beginnt zu schreiben, nur für sich. Daniel gibt ihr Wittgenstein und andere Philosophen zum Lesen. Sie diskutieren viel. Mit Erhard, ihrem Mann, spricht sie immer weniger. Wie auch, er sitzt meistens vorm Fernseher oder am Computer. Da tippt er immerhin ihre Texte ab. 2007 trennen sie sich, mit Respekt und Sympathie.

Allein. Endlich ganz bei sich. Alles ist nun Geschichte. Sie lebt von der Grundsicherung, freut sich über jedes Lebenszeichen ihrer Kinder. Es ist alles so klein geworden, die Träume, die Hoffnungen. Aber Renate bleibt aktiv. Sport. Literatur. Sie will ja nicht klagen. Dieses Jahr, am Muttertag steht Ratten-Jenny aus London überraschend vor der Tür. Immer noch mit der Irokesenfrisur wie vor dreißig Jahren. Sie sprechen bei Kaffee und Kuchen über Vergangenes. Über das Verlieren und das Wiederfinden. „Ach, ist doch gut. Du bist ja mein Kindchen! Ich freue mich auf dich im August“, sagt die Mutter zum Abschied. Zu dem Wiedersehen wird es nicht mehr kommen. Eine Blasenoperation, Routine, doch kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus verliert Renate das Bewusstsein. Erik Steffen

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