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Berlin: Sigurd Fleischer (Geb. 1963)

War es die Ernährung? Der Stress? Die Karriere?

Von David Ensikat

Das Pfarrhaus, in dem er aufwuchs, war uralt, die Einstellung der Eltern ebenso. Der Vater hielt in seiner Kirche das Hurenbänkle bereit für jene Frauen, die vor der Ehe ein Kind bekommen hatten. Die Mutter ließ den Sohn ein Blatt vollschreiben mit dem Satz „Willy Brandt ist ein Verräter“ – als Rechtschreibübung. Der Sohn bedankte sich für die treudeutsche Erziehung mit langen Haaren und raschem Auszug.

Nach Berlin ging er, wohin denn sonst. Das war weit weg von Ulm, man musste nicht zum Bund und konnte dafür lange und mühelos studieren. Frauen kennenlernen, das fiel auch leicht in Berlin, zumal einem Mann von seinem Aussehen, einsachtzig, athletisch, blaue Augen.

Die Frau, bei der er blieb, war Manuela, im Geschichtsseminar lernten sie sich kennen, zusammen machten sie die Abschlussprüfung und fuhren hinterher nach China. Zurück in Berlin machte Sigurd eine Erfahrung, die ihn überraschte: Es läuft nicht alles von allein. Nach dem Studium, hatte er gedacht, könnte man „was mit Journalismus“ machen. Aber es wartete keine Redaktion auf ihn.

So begann er noch ein Studium, eins für Realisten. Finanzwirtschaft, drei Jahre mit der Aussicht auf einen ruhigen Verwaltungsposten. Ehrgeizige Karrierepläne hatte Manuela, die sollte sie auch ruhig haben. Sigurd wollte sie gerne unterstützen, solange genug Zeit fürs Reisen blieb.

Das Studium brachte er zu Ende, doch aus dem ruhigen Posten wurde nichts. Die Finanzverwaltung sparte. Das war sein Glück. Oder auch sein Verhängnis. Wer weiß?

Sigurd erinnerte sich an die Idee vom Journalismus, ergänzt um seine neuen Kenntnisse. Ein Journalist mit Ahnung von Geld und Steuern, dazu noch mit der Lust, über Geld und Steuern zu schreiben! Eine seltene, gefragte Spezies.

Sigurd tat, was er sich selbst kaum zugetraut hätte, er arbeitete gern und viel. Und so ereilte ihn: die Karriere. Er verließ früh die Wohnung, kam spät heim, verdiente gutes Geld bei einem kleinen, exklusiven Wirtschaftsblatt. Und wurde gefragt, ob er Chefredakteur werden wolle. Das wollte er eigentlich nicht – und wurde es. Und verließ noch früher die Wohnung und kam später heim.

Seit 2003 hatten Sigurd und Manuela eine Tochter und bald auch eine große, schöne Eigentumswohnung. Und viel Mühe, nichts zu kurz kommen zu lassen, zwei Karrieren, Kind und Lebenslust.

Montag, der 28. Juli 2008 war einer jener Redaktionsschlusstage mit viel Stress, nichts Besonderes. Dienstag, der 29. Juli war der Tag, an dem Sigurd zum Arzt ging wegen seiner Bauchschmerzen. Am Donnerstag bekam er die Diagnose, Darmkrebs, Metastasen. In sein Büro ging er nie wieder.

Selbstverständlich fragt man sich, wann der Zeitpunkt überschritten war, an dem es noch nicht zu spät gewesen wäre. Er muss lange zurückgelegen haben. Wer den Krebs rechtzeitig sieht, der wird ihn auch besiegen – ist das immer so? Und hat so eine Krankheit eines 45-Jährigen eine begreifliche Ursache? Ernährung? Stress? Die Karriere?

Sigurds Tochter wurde eingeschult, davor hatte er zwei Operationen, danach die erste Chemotherapie. Die Ärzte nahmen Proben, zeichneten Kurven, manchmal deprimierende, manchmal solche, die einen Schimmer Hoffnung ließen.

Wie hell ein Schimmer sein kann! Im Sommer 2009 machte Sigurd beim Fünf-Kilometer-Lauf durch den Tiergarten mit. Weil niemand glaubte, dass er das schaffen würde, hat er es geschafft. So würde das auch mit dem Krebs funktionieren! Das war die Art, mit der Sigurd Glauben schaffte. Sigurd, der protestantische Pfarrerssohn, für den der liebe Gott ein Fremder war.

Im Januar 2010 unternahm er seine letzte große Anstrengung, die Reise seines Lebens. Mit dem Krebs im Körper, der sein Endstadium erreichte, flog er nach Iquitos im Amazonasurwald. Hier gibt es schwer zugängliche Täler, in denen Schamanen residieren, die mit unterschiedlichen Heilkräutern Ähnliches versprechen: Wunder für Menschen, die weder an die Ärzte noch an den Herrgott glauben.

Sigurds Schamane hieß Don Guillermo. Er verabreichte dem Krebskranken für 70 Euro am Tag dieselbe Therapie wie Asthmatikern, Allergikern und Sinnsuchern: Kräutertee, Gesänge, nächtliche Rituale, Ayahuasca – eine Droge, die Visionen schafft.

Fünf Wochen verbrachte Sigurd in dem Camp, fünf Wochen unerreichbar, kein Telefon, kein Internet. Fünf Wochen lang zermarterte Manuela sich den Kopf: Würde sie ihren Mann je wiedersehen? Wie konnte sie ihn nur gehen lassen? Sie sandte E-Mails an den österreichischen Vermittler dieser Reise. Die Antworten bestätigten den Verdacht: Das war ein Quacksalber, zynisch oder wahnsinnig oder beides.

Und doch geschah ein Wunder. Sigurd kehrte heim, abgemagert, todesnah. Nein, der Krebs war nicht geheilt. Aber Sigurd hatte keine Angst mehr. Er war, sagt Manuela, wie ausgewechselt. Alle Zweifel waren fort, aller Drang, das Unabänderliche abzuändern. Sigurd sprach von mystischen Erfahrungen, Einsichten, die ihn sicher machten: Das, was geschieht, ist gut. Er musste so weit weg, sagt Manuela, um zu sich zu kommen. Das hat zu ihm gepasst.

Im Hospiz besuchten ihn die Freunde, und sie kamen gern zu ihm. Er machte es ihnen leicht, denn er fragte nicht mehr: Warum ich? An einem Dienstag spielte er noch einmal Doppelkopf, drei Stunden lang. Und er rauchte eine letzte Zigarette. Am Donnerstag ist er gestorben. David Ensikat

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