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Berlin: Ursula Böttcher (Geb. 1927)

Gegenüber Löwen und Eisbären hat sie immer gedacht: Ich bin der Chef!

Die oberste Putzfrau des Zirkus Busch war nur 1,58 m groß. All die jungen schönen Bewerberinnen, die sich auf die Zirkus-Annonce „Attraktive Löwenbändigerin gesucht!“ gemeldet hatten, sahen wohl über sie hinweg. Ursula Böttcher seufzte, fasste ihren Schrubber fester und sah doch immer wieder hinüber zu den angehenden Löwenbändigerinnen. Die benahmen sich sehr eigenartig, die Gegenwart der Löwen schien sie zu irritieren. Natürlich wusste auch Ursula Böttcher, was es heißt, Angst vor Tieren zu haben. Sie hatte vor allem Angst vor Spinnen. Lebewesen mit mehr als vier Beinen waren ihr unheimlich. Aber Löwen?

Der Zirkusdirektor gab seiner führenden Zeltpflegerin trotzdem zuerst eine Eselnummer, das war 1954. Kurz darauf hatte sie die Löwen. Genau bis zu dem Tag, als sie wieder zum Zirkusdirektor gerufen wurde, sechs Jahre später, diesmal zum Generaldirektor des VEB Zentralzirkus der DDR, dem die Körpergröße seiner Raubtierdompteuse – zu den Löwen waren bald Leoparden und Braunbären gekommen – auch schon aufgefallen war. Er hatte nach Art der Zirkusdirektoren überlegt: 1,58 Meter Uschi und drei Meter noch was ein Eisbär. Welch Kontrast! Und so herrlich steigerbar. Je mehr Eisbären …

Also begann der Generaldirektor: „Uschi, Sie kennen doch die Eisbärennummer, die wir von Trolle gekauft haben und die jetzt der Schneider vorführt?“– „Natürlich, die läuft ganz gut.“ – „Ich könnte mir aber vorstellen, dass sie noch besser ankäme, wenn eine Frau in der Manege stünde.“

Ursula Böttcher gab zu bedenken, dass sie mit ihren Löwen viel Spaß habe und überhaupt nicht die Absicht … Da unterbrach sie der Generaldirektor: „Frau Böttcher! Zwei Möglichkeiten: Entweder Sie übernehmen die alten Bären, oder Sie kriegen eine Hundenummer!“

Sie widersprach nicht mehr. Und nun begann, was die ehemalige Putzfrau des Zirkus Busch bald zu einer Weltsensation machen würde, zur einzigen Trägerin eines Zirkus-Oscars, der je an Nichtartisten vergeben wurde. Zur ersten und einzigen Frau mit einer Eisbärendressur weltweit. „Baroness Of The Bears“ nannten sie die Amerikaner.

Uschi und zwölf Bären. Es hieß lange, Eisbären, die gefährlichsten Raubtiere der Welt, könne man gar nicht dressieren. Sie seien zu unberechenbar.

Doch die frühere Zirkusputzfrau setzte sich auf ihren Rücken, ritt auf ihnen, ließ sie durch Feuerreifen springen. Und sie küsste sie. Den Augenblick, als Ursula Böttchers Lippen Alaskas Schnauze berührten – festgehalten auch auf einer DDR-Briefmarke –, während sie zugleich die elf übrigen Bären im Auge behalten musste, nannten die Zirkusbesucher weltweit den „Todeskuss“.

Angst? Gegenüber Löwen und Eisbären hat sie immer gedacht: Ich bin der Chef! Und in den Augen ihrer Tiere las sie: Du bist der Chef! Bei der Mund-zu-Schnauze-Zuckerübergabe war sie den Pranken des Bären Alaska wehrlos ausgeliefert, aber das war nicht schlimm. Schlimm war seine Spucke, das Lebertran-Aroma.

Zuletzt war sie mitsamt ihrer Bären vor allem eine DDR-Altlast. Als die deutsche Einheit kam, baute Ursula Böttcher gerade eine neue Bärengruppe auf. So sind es statt der geplanten zehn nur noch fünf geworden. Der DDR-Staatszirkus wurde abgewickelt, doch Ursula Böttcher ging mit ihren Bären immer weiter auf Tournee. Das machte sie noch, als sie und ihre Bären nach dem Scheitern eines letzten Privatisierungskonzepts für den Staatszirkus längst „Liquidationsobjekte“ waren. Angebote hatte sie noch für viele Jahre.

Nur Tosca, die einzige Bärin ihrer Gruppe, war mehr als eine Altlast, ja sie war das genaue Gegenteil. Eisbärinnen sind unbezahlbar, das wusste auch Ursula Böttchers Liquidator, der eben noch Gutachter gewesen war und für „unrettbar“ gestimmt hatte. Weshalb Ursula Böttcher Tosca schneller verlor, als sie denken konnte. Im Jahr zehn der deutschen Einheit wurde ihre Dressur handstreichartig aufgelöst. Ursula Böttcher verlor ihre Familie. Was zählte der Seelenfrieden einer alten Dompteuse, die ihre Bären alle zusammen in einen spanischen Safaripark geben wollte, gegen eine Gratiseisbärin für den Berliner Zoo? Nur Wochen vorher hatte sie auch Norda verloren, die letzte aus der alten Gruppe. 36 Jahre alt war sie geworden. Das ist so, als ob wir 150 würden, erklärte Ursula Böttcher damals. In Zoos schaffen sie kaum die Hälfte. Alle ihre Bären sind alt geworden. Viel mehr pflegte Ursula Böttcher zum Thema artgerechte Lebensweise nicht zu äußern. Leben wir etwa artgerecht?

Was sollte sie künftig tun? In dem Hellersdorfer Plattenbau, wo sie eine kleine Wohnung hatte, kannte sie niemand und niemand kannte sie. Sie war doch nie da gewesen. Ihre Ärztin sagte, sie könne auch zur Nasa gehen, mit ihren Nerven. Bemannte Raumfahrt, überlegte Ursula Böttcher mit einem Lächeln im Gesicht und sprach dann: Oder ich dressiere weiße Mäuse!

Zwei ihrer Bären lebten nun in einen französischen Zoo, dort hat sie Olaf und Tromsö vor acht Jahren besucht. Als sie ihre Namen rief, kamen beide aus dem Wasser, standen am Graben und schauten zu ihr. Sie ging weg, kehrte nach einer Stunde zurück, da standen sie noch genauso da. Da kamen ihr die Tränen.

In den Berliner Zoo wollte sie keinen Fuß setzen. Ob sie es sich überlegt hat, als ihre Tosca Mutter wurde? Eigentlich gehört doch auch Knut zu ihrer Familie.

Im Jahr zwanzig der deutschen Einheit ist Ursula Böttcher gestorben.

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