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Berlin: Ursula Schieferdecker (Geb. 1929)

Sie hatte ihren eigenen Kopf, auch wenn das niemand so recht bemerkte.

Für ihren Mann war sie die rechte Hand im Büro und für ihre Kinder die perfekte Mutter. Schon ihr Mädchenname verwies auf eine doppelte Persönlichkeit: Ursula Liselotte Lott. Doch was so schön nachhallte, lenkte vom Eigentlichen ab: Ursula, das ist die kleine Bärin.

Aus Lieselotte Lott wurde eine Schieferdecker, und aus der kleinen Bärin eine große Bärin, die nur in den Sommerferien Gelegenheit fand, braun gebrannt und selbstgenügsam durch die Südtiroler Alpen zu wandern. Keine Mutter der Welt war so gutherzig, neugierig, sorgenvoll und umtriebig wie sie. Dafür legen alle in der Familie die Hand ins Feuer.

Geschickt zog sie von zu Hause aus die Fäden. Als gelernte Wirtschaftskorrespondentin erledigte sie den aufwendigen Schriftverkehr ihres Mannes, einem Steuerberater. Haus und Büro, da bestand kein Unterschied. Alles befand sich unter einem Dach: Keller, Küche, Kinderzimmer und Kanzlei. Erst lebte die Familie in einer Zweizimmerwohnung am Viktoria- Luise-Platz, dann zog sie in ein Haus in Lankwitz. In den letzten Jahren blickte Ursula Schieferdecker von ihrem Schreibtisch aus auf den Wannsee. In Rente zu gehen, daran dachte sie gar nicht, weder als gute Seele des Büros, noch als Herrin der Kochtöpfe.

Drei Dinge benötigte sie, um den Familienbetrieb am Laufen zu halten: Einen Satz Kochtöpfe, eine funktionstüchtige Schreibmaschine und eine Telefon-Flatrate. Dem Charme ihrer Anschreiben erlagen die Mandanten reihenweise. Und am Telefon erreichte sie mit ihrer jung gebliebenen Stimme unglaublichste Dinge. Einmal saß ihre älteste Tochter auf einem Flughafen fest, niemand mochte helfen bei einem gestrichenen Flug nach Südafrika. Zwanzig Minuten später erhielt die Tochter den Anruf: „Gleich kommt der freundliche Kapitän einer Maschine nach Kapstadt und holt dich ab!“ Bis heute weiß die Tochter nicht, wie ihre Mutter das geschafft hat.

Sie hatte ihren eigenen Kopf, auch wenn das niemand so recht bemerkte, da sie ihre Bedürfnisse meist hintanstellte. Nur einmal ging sie ihrer Sehnsucht rigoros nach. Als Mädchen im bayerischen Kriegs-Schulheim wollte sie so sehr zu ihrer Mutter, dass sie mit nichts als einem Kleid am Leib und einem Stullenpaket unterm Arm nach Berlin ausbüchste. Das Dumme: Ihre Mutter befiel zur selben Zeit die Sehnsucht nach der Tochter – und so fuhren sie aneinander vorbei. Die Mutter war stinksauer. Und einen Schulverweis gab es obendrein.

Als große Bärin neigte Ursula Schieferdecker dazu, sich unablässig um ihre Kinder und das geliebte Enkelkind zu sorgen. Sie musste jederzeit wissen, wo sich wer mit wem und weshalb befand. Drei Anrufe täglich, das empfand der Sohn als ganz normal. Sie machte sich eben ihre Sorgen: „Aber Mutti, was soll denn passieren, wir angeln doch nur?“ – „Na, du könntest doch eine Wasserleiche aus dem Wasser ziehen!“

Die Einkaufstaschen schleiften schon fast über den Boden, wenn sie mit langen Armen vom Einkaufen kam, aber helfen ließ sie sich nicht: „Nein, das mach ich schon alleine!" Der Sonntag blieb der Familie und den Anverwandten reserviert und wurde mit einem gemeinsamen Essen begangen. Sie gab sich mit Häppchen zufrieden, während alle anderen kaum verschnaufen durften zwischen erster und zweiter Roulade. Als die jüngere Tochter verkündete, mit ihrem Mann auf ein Segelboot überzusiedeln, um ein Jahr lang auf dem Mittelmeer zu kreuzen, traf sie das schwer. Eine Woche durchlebten alle einen Weltuntergang. Dann lernte Ursula Schieferdecker, wie GPS funktioniert, konnte so die Route des Bootes verfolgen, und der Himmel über Berlin wurde wieder blau.

Einmal im Jahr zu Weihnachten kamen alle zusammen. Die Gans war gegessen, die Geschenke ausgepackt und die Mandanten mit Grüßen versehen. Da lächelte sie selig und ließ vergnügt die Beine baumeln, und auch das kam allen ganz selbstverständlich vor. Stephan Reisner

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