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Berlin: Vera Scheibe (Geb. 1920)

„Wer einsam ist, der hat es gut, weil niemand ihm was Böses tut“

Von Julia Prosinger

Kurz vor der Operation übergibt sie dem behandelnden Arzt einen Brief. Er soll ihn erst öffnen, wenn alles vorbei ist. „Geht etwas schief, so war es nicht Ihr Fehler“, schreibt sie.

Ein paar Jahre später sitzt Vera Scheibe, bald 90, mit Kopfhörern statt Hörgeräten, in ihrem Pflegebett zu Hause in der Mommsenstraße. Das Bett ist ihr Thron. Vor ihr der Tisch für den Laptop und den neuesten Fernseher, rechts die Chemietoilette, auf die sie sich allein hieven kann, links der Gaskocher, auf dem sie Kartoffelpüree anrührt. Wasser und Pulver bringt ihr ein Freund, der Hausmeister. In ihrem Arm schnurrt der rote Kater Paul. Sucht Vera Scheibe etwas, zieht sie sich am Galgen hoch und stochert mit einer Greifzange danach. Vera Scheibe lebt vom Bett aus in die Welt hinein.

Mal kommt der Doktor vorbei, die beiden haben sich inzwischen angefreundet. So einen Brief bekommt man nicht alle Tage. Einige Leute im Haus haben den Schlüssel zu Vera Scheibes Erdgeschosswohnung. Die Fußpflegerin bestellt sie öfter, als ihre Füße es brauchen.

Ihre Schubladen sind verstopft, die Schränke quellen über. „Das ist meine Ordnung“, sagt sie und schickt den Besucher an das hinterste Regal links im Schlafzimmer, da liegt das Stopfgarn. Neben dem Bett steht ein Sauerstoffgerät. Brot bekommt sie nicht mehr herunter, sie hat schon lange keine Zähne mehr und Dritte trägt sie nicht. Kekse rutschen ganz gut. Bringt ihr der Hausmeister ein Eisbein vom Mommsen-Eck, püriert sie es.

Seit 40 Jahren wohnt Vera Scheibe in diesem Charlottenburger Haus, sie kann von Einbrüchen erzählen, vom Mord gegenüber. Für den schweren Erich ist sie damals hier eingezogen. Eine Zweckehe. Wer den anderen überlebt, sagten sie, erbt die Rente des anderen. Kriegskinderlogik.

Vera Scheibe, Schmargendorfer Einzelkind, aufgewachsen, als es noch große Stachelbeeren gab und man im Treptower Park auf dem Karpfenteich Schlittschuh laufen konnte, hat ihre erste und einzige Liebe im Krieg verloren. Gern hätte sie eine richtige Familie gehabt. Sie wurde erst Handelskauffrau, verkaufte dann bei Woolworth Blumen und pflegte jahrelang den Mann, den sie nicht liebte, liebevoll. Kochte „Gomolosow-Salat“, eine Eigenkreation: Hering und Hähnchen, Kapern, Äpfel, Speck und Haselnüsse. Backte. Vier Kühlschränke hatte sie, gefüllt mit Butter für Jahre. Kriegskinderlogik. Aß Cremetorten und nie unreifes Obst. Bananen sind erst gut, wenn sie braun sind. Scheibe-Weisheit. Bald war sie so schwer wie der schwere Erich.

„Wir brauchen doch keine Männer“, sagt sie zu ihren Freundinnen, als Erich stirbt. „Wer einsam ist, der hat es gut, weil niemand ihm was Böses tut“, summt sie vor sich hin. In einer Kammer richtet sie sich eine Werkbank ein und lötet, schraubt und klebt. Eines Tages will sie die große Modelleisenbahn im Wohnzimmer aufbauen. Immer kommt etwas dazwischen.

Die Freundin aus der Schulzeit reist an, Scrabble, Vera Scheibe sägt die extragroßen Spielsteine selbst aus. Kinder schauen auf eine Partie Siedler von Catan vorbei oder Monopoly. Spielen, essen, spielen, essen. „Was wollt ihr, was braucht ihr?“, fragt sie Freunde aus dem Osten.

Liebe äußert Vera Scheibe in Ratschlägen und Gardinen. „Welche Größe?“ „Mit Troddeln?“ – dann näht sie los. Was gegen Bauchschmerzen des Säuglings hilft, welches die richtigen Dübel sind, teilt sie mit. Kommt sie im Großgeblümten zu Besuch, inspiziert sie zunächst die Pflanzen. Ihren eigenen Vorgarten zur Mommsenstraße lässt sie zum Fenster hereinwachsen. „Damit ich das Publikum nicht mehr sehen muss.“

Dann hält sie inne: „So putzt du das Aquarium? Da sterben ja die Fische!“

Tiere sind besser als Menschen. Vera Scheibe holt die ärmsten Katzen aus dem Tierheim, zerzauste Gestalten. In den 90ern fliegen Vögel durch ihre Wohnung. Sie besitzt eine riesige Voliere für die 25 Nymphensittiche, aber soll sie sie darin einsperren? Müssen die Besucher eben etwas vorsichtiger sein, wenn sie zur Tür hereinkommen.

Vera Scheibe wird dicker, unbeweglicher, verlässt das Haus nicht mehr. Der Hausmeister beschafft ihr ein Elektromobil. „Mein Porsche“, sagt sie. Irgendwann zieht sie vollständig ins Bett.

Mit einer Freundin spinnt sie nachts am Telefon Geschichten, in denen jedes Wort mit K beginnt. Den Doktor fragt sie in Briefen, wie der Klimawandel funktioniert und ob ein Atomunfall zu befürchten sei. Im Internet schließ die 92-Jährige Bekanntschaften, bestellt Katzenfutter für Paule, einen Apfelbaum für den Hausmeister. Schickt einen Weihnachtsreim an die Brentano-Gesellschaft – er wird in einem Gedichtband veröffentlicht. Um das Gedächtnis frisch zu halten, sagt sie sich abends im Bett ihr Lieblingsgedicht auf, „Die Frauen von Nidden“, Agnes Miegel, elf Strophen. Manchmal tut es aber auch das kleine Einmaleins.

Bevor sie stirbt, schreibt sie ihrem Arzt noch mal. „Ich habe es immer ehrlich mit Ihnen gemeint“. Unterschrift: „Muttern Scheibe“.

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